EU-Spitzenposten: Hat man die Richtigen ausgesucht?
Die Staats- und Regierungschefs der EU haben die Personalien für die Spitzenposten nun offiziell festgelegt: Die Deutsche Ursula von der Leyen (EVP) soll Kommissionspräsidentin bleiben, der Portugiese António Costa (S&D) Präsident des Europäischen Rates werden und die Estin Kaja Kallas (Renew Europe) das Amt der EU-Außenbeauftragten übernehmen. Kommentatoren bewerten die Entscheidungen unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten.
Selbst Fico wird Meloni vorgezogen
Giorgia Meloni wurde ausgebootet, spottet La Stampa:
„Um den von Giorgia erwarteten und ihrer Meinung nach verdienten Schritt auf sie zu nicht machen zu müssen, haben sich die Sozialisten an den slowakischen Premier und Smer-Vorsitzenden Robert Fico gewandt. Er verfügt über eine kleine Gruppe von sechs Abgeordneten, die das Verdienst hätten, auf dem Papier die numerische Mehrheit, die VdL [von der Leyen] anstrebt, von 399 auf 405 und damit über die psychologische Schwelle von 400 Abgeordneten zu bringen. Nun muss man wissen, dass Fico souveränistische, nationalistische, offensichtlich einwanderungsfeindliche und Putin-freundliche Positionen vertritt und genau aus diesem Grund vergangenen Oktober von Europas Sozialdemokraten suspendiert wurde. ... Nun könnte er rehabilitiert werden.“
Kallas fasziniert
Die Ernennung von Kaja Kallas zur Hohen Vertreterin für Außenpolitik analysiert Maaleht:
„Das bedeutet, dass Kallas in Europa eine Menge Unterstützung genießt. In erster Linie natürlich bei ihrer eigenen politischen Familie, den europäischen Liberalen von Renew Europe, aber auch im weiteren Sinne. ... Wenn man sich die europäischen Medien anschaut, wird Kallas fast als die einzig mögliche Wahl für den Posten dargestellt. 'Die Ausländer sind fasziniert von ihr', schrieb Journalist Edward Lucas kürzlich in der Londoner Times. ... 'Sie zerschlägt das überholte Stereotyp des osteuropäischen Politikers als Mann mit Doppelkinn und holprigen Englisch-Kenntnissen.'“
Handeln statt debattieren
Laut Kleine Zeitung sollte die EU sich jetzt mit den drängenden Aufgaben befassen:
„Über der ganzen Debatte über das EU-Spitzenpersonal übersieht man leicht die wirklich wichtigen Dinge. Nach den Wahlen sind die Staats- und Regierungschefs nun gerade dabei, die Marschrichtung für die nächsten Jahre festzulegen. Vor fünf Jahren war es noch der Kampf gegen den Klimawandel, jetzt geht es ans Eingemachte: Migration und Asylwesen stehen im Zentrum, dazu noch Sicherheit und Verteidigung sowie Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit.“
Parteipolitik dominiert
NRC-Kolumnist Luuk van Middelaar blickt auf das Zusammenspiel zwischen Parteien- und Länderproporz:
„Parteipolitik dringt in die europäische Politik, an immer mehr Stellen und mit unerwarteten Folgen. ... In der EU ist die Chefin der Fratelli d'Italia auch die Anführerin der konservativen und radikal-rechten ECR, zu der auch polnische Nationalisten sowie finnische und schwedische Rechtsradikale gehören. Diese Fraktion wird aber aus der Koalition der anderen drei ausgeschlossen. ... Der diplomatische Affront gegen Meloni wurde größer, weil mit ihrer Partei zugleich auch der drittgrößte EU-Mitgliedstaat im Abseits stand. Erniedrigend. ... Meloni wird Wiedergutmachung fordern, zum Beispiel mit einem starken Kommissionsposten für Italien.“
Rechtsruck nicht einfach ignorieren
ABC sieht einen großen Fehler:
„Die Verteilung erweckt den Eindruck, dass die EU-Institutionen weiterarbeiten, als wäre an der Urne nichts geschehen. ... Italiens Regierungschefin hat sich zu Recht über die mangelnde Berücksichtigung der von ihr vertretenen Ideen beklagt. Meloni argumentiert, dass die letzten Wahlen 'das Gravitationszentrum' innerhalb der EU verändert haben, und hält das vorgeschlagene Triumvirat der Kontinuität für 'surreal'. ... Meloni zu isolieren ist ein Fehler. ... Sowohl beim Thema Ukraine als auch bei der Einwanderung hat sie Europäismus bewiesen. Die neue EU-Führung muss den Wählern der aufstrebenden Kräfte entgegenkommen. ... Andernfalls werden im europäischen Projekt nur Spaltung und Unzufriedenheit der Bürger zunehmen.“
Sich einigeln oder Isolation überwinden
Meloni muss jetzt entscheiden, wie sie mit der Situation umgeht, kommentiert La Repubblica:
„Das Gesamtbild zwingt Ursula von der Leyen, Italien gegenüber weniger entgegenkommend zu sein als in den letzten Monaten. Denn die Kommissionspräsidentin weiß, dass ein zu großer Schritt auf Meloni zu sie die Stimmen der Sozialisten im Europäischen Parlament kosten würde. Sie will daher vertraulich und auf institutioneller, nicht auf politischer Ebene mit Meloni verhandeln. … Der einzige Verhandlungspunkt ist das Ressort, das dem italienischen Kommissar zugewiesen werden soll, wobei es das Gewicht Italiens und nicht das der Fratelli d'Italia zu beherzigen gilt. ... Zwischen heute und morgen hat Meloni eine Wahl: aus der Isolation herauskommen oder sich darin einigeln.“
Costa bringt ideale Voraussetzungen mit
Correio da Manhã glaubt, dass ganz Europa von der Ernennung des portugiesischen Ex-Premiers António Costa zum EU-Ratspräsidenten profitieren könnte:
„Das Verhandlungsgeschick und die diplomatischen Fähigkeiten eines portugiesischen Regierungschefs, der sein Leben lang Brücken gebaut hat, werden in den Dienst der europäischen Integration gestellt. ... In den kommenden Jahren steht Europa vor der Herausforderung der Erweiterung. Viele Länder außerhalb der Gruppe der 27 betrachten den gemeinsamen Raum als einen Traum, den es zu verwirklichen gilt. Diese Arbeit wird auf der Ebene des Europäischen Rates geleistet werden. António Costa bringt die idealen Voraussetzungen mit, um diesen Prozess zu leiten und damit Mister Europa zu werden.“
Kallas soll ihre Stärken ausspielen
Kolumnist Marti Aavik drückt seiner Landsfrau in einem Beitrag für Eesti Päevaleht die Daumen:
„Kaja Kallas hat die Chance, das Amt der Hohen Vertreterin der EU für Außenpolitik auf eine neue Ebene zu heben. Noch nie hat eine Person mit der Medienpräsenz von Kallas diese Position erreicht, auch kein Premier. Noch wichtiger ist jedoch, was Kaja Kallas und ihr künftiges Team für die gesamte freie Welt tun werden. Besonders in diesen sehr dunklen Zeiten. Ihre Stärken wird sie zu nutzen wissen und ich drücke ihr die Daumen, dass es ihr gelingen möge, ihre Schwächen zu überwinden. Was ist die Schwäche? In der Innenpolitik war Kaja Kallas eher spröde und unfähig, Regierungen als Team zu führen.“