Machtpoker vor dem Gipfel: Wer regiert die EU?
Noch ist unklar, ob sich die EU-Staaten beim Gipfel ab Donnerstag auf einen Vorschlag für die Präsidentschaft der Kommission einigen können. Gleichzeitig herrscht im neu gewählten EU-Parlament Zeitdruck bei der Fraktionsbildung. Die Namenslisten müssen am 15. Juli vorliegen, wenn die Fraktionen bei der konstituierenden Sitzung am Folgetag anerkannt werden sollen. Europas Presse beobachtet die Verhandlungen auf allen Ebenen.
Pro-europäische Mehrheit muss zusammenhalten
El País appelliert vor allem an die Volksparteien:
„Es gibt immer noch eine klare pro-europäische Mehrheit im Parlament und auch in den Länderregierungen. Das ist ein Fakt. ... Dafür ist es wichtig, dass die EVP-Fraktion ihre pro-europäische Geschichte nicht für taktische Absprachen mit den extrem rechten Verteidigern des Europas der Vaterländer verrät. Die pro-europäische Mehrheit sollte geschlossen bleiben und den Vorstoß und Einfluss der Ultrarechten rundheraus ablehnen. Diese wollen den Weg des grünen Übergangs umkehren oder das Migrationssystem weiter verschärfen. ... Vereinbarungen müssen innerhalb des europäischen Rahmens zustande kommen. Dies ist der beste Weg, um die Interessen der europäischen Bürger in einer Welt zu verteidigen, die von uns eine gestärkte EU verlangt.“
Von der Leyens Chancen könnten sich mindern
Die Tageszeitung Naftemporiki analysiert:
„Die jüngsten politischen Entwicklungen, insbesondere die vorgezogene Wahl in Frankreich, könnten sich auf die Chancen von Ursula von der Leyen auswirken. Angesichts der zu erwartenden Siege der extrem rechten Partei von Marine Le Pen bei den französischen Wahlen und der Christdemokraten in Deutschland bei den Wahlen im nächsten Jahr sind sowohl Macron als auch Scholz in einer geschwächten Position. Sie erkennen die Notwendigkeit einer starken Figur in der EU-Spitze, um die Einheit des EU-Blocks zu wahren. Es besteht die Möglichkeit, dass Draghi der einzige echte 'westliche demokratische Repräsentant' ist, der auf der höchsten europäischen Regierungsebene eingesetzt werden kann.“
Meloni geht auf die EVP zu
Die italienische Regierungschefin will in jedem Fall mitreden, analysiert La Repubblica:
„Es wäre undenkbar, dass Italien, eines der Gründungsländer der Gemeinschaft, am Rande bleibt. Hinter den Kulissen mangelte es nicht an erbitterten Unstimmigkeiten. Rom forderte eine führende Rolle und Spitzenposten, am Ende wird es etwas weniger bekommen. … Vielleicht einen Vizepräsidentenposten. Das Wichtigste für die italienische Ministerpräsidentin ist jedoch, einen bedeutenden Schritt auf die EVP zuzugehen, deren Fraktion Deutschland anführt, und sich ohne allzu viel Aufhebens von den Souveränisten zu distanzieren. Es sieht so aus, als ob das Vorhaben gelingen könnte, allerdings um den Preis eines Bruchs der nationalistischen Front.“
In der EKR passt einiges nicht zusammen
In der stark gewachsenen EKR-Fraktion könnte es durch die Aufnahme neuer Mitglieder zu internem Streit kommen, prophezeit RFI România:
„Wie lässt sich beispielsweise die pro-ukrainische Haltung von Georgia Meloni, dem tschechischen Premier Petr Fiala und der polnischen PiS mit der anti-ukrainischen Haltung der Französin Marion Maréchal [Parti Reconquête] vereinbaren? Sie hat sich häufig gegen die Militärhilfe für Kyjiw ausgesprochen und gegen Sanktionen gegen Moskau. Noch schlimmer sieht es bei der AUR-Partei aus, deren Chef George Simion mit einem Einreiseverbot in die Republik Moldau und der Ukraine belegt ist. Offizielle Stellen beider Länder begründen den Schritt damit, dass der rumänische Politiker Verbindungen zu den russischen Geheimdiensten habe.“
Die Rechte lähmt sich selbst
Der Tages-Anzeiger führt die Differenzen im Lager der extremen Rechten vor allem auf eine Person zurück:
„Schlüsselfigur ist hier Meloni, die nicht die beste Freundin von Marine Le Pen ist und nun auch Viktor Orbán endgültig in die Extremistenecke verbannt hat. Orbáns Fidesz jedenfalls wird keinen Platz mehr in Melonis EKR-Fraktion finden, solange Ungarn die Ukraine als Feindstaat behandelt. ... Meloni ... mauert fleissig zwischen ihrer EKR und den Superrechten der 'Identität' mit dem Niederländer Wilders, der Französin Le Pen und der italienischen Lega. Die deutsche AfD wurde von allen verstossen. Die Rechten bündeln ihre Kräfte nicht, sie lähmen sich wechselseitig.“
Klimapolitik könnte auf der Strecke bleiben
In Bezug auf die Handelspolitik wird sich der wachsende Einfluss der Rechtsextremen weniger auswirken als die Schwächung der Grünen, analysiert der Ökonom Sébastien Jean in Le Monde:
„In einer solchen Konstellation hängt die Fähigkeit der EU, ihre Interessen und Werte effektiv zu verteidigen, weitgehend von ihrem Zusammenhalt ab. ... In dieser Hinsicht ist der Fokus der europäischen extremen Rechten auf nationale Interessen schwächend, aber er sagt wenig darüber aus, welche Richtungen eingeschlagen werden. Die relative Schwächung der Umweltschützer auf europäischer Ebene könnte durchaus einen größeren Einfluss haben, und zwar mit dem Risiko, dass die Klimaschutzambitionen bei den anstehenden Entscheidungen auf der Strecke bleiben.“