Großbritannien-Wahl: Was bringt der Labour-Sieg?
Labour-Chef Keir Starmer hat die Parlamentswahl in Großbritannien mit einem deutlichen Sieg für sich entschieden und einen "Wandel" versprochen. Labour konnte mit 412 der 650 Sitze die Mehrheit im Unterhaus erringen, während die Tories mit 121 Sitzen hohe Verluste einfuhren. Kommentatoren fragen sich, was ein Wandel beinhalten könnte und sollte.
Flitterwochen werden kurz sein
Labour-Chef Keir Starmer muss rasch echte Verbesserungen liefern, mahnt The Irish Times:
„Seine Position ist nicht so stark, wie sie scheint. Starmer hat es mit einer unberechenbaren Wählerschaft zu tun, die die Nase voll hat. Um die Probleme Großbritanniens anzugehen, muss er bereit sein, schwierige Entscheidungen zu treffen. Gleichzeitig benötigt er das politische Geschick, die Wähler mitzunehmen. Labour profitiert im Moment schlicht davon, nicht die Konservative Partei zu sein. Das Chaos der vergangenen Jahre ist Geschichte. Aber das wird nicht reichen. Die Flitterwochen werden kurz sein. Starmer muss schnell handeln, um echte Verbesserungen in Bereichen zu erreichen, die das Leben der Menschen betreffen.“
Exit vom Brexit ist jetzt möglich
Jetzt sollte auch noch mal über den Wiedereintritt in die EU nachgedacht werden, meint das Handelsblatt:
„Starmer hat im Wahlkampf zwar ausgeschlossen, dass Großbritannien zu seinen Lebzeiten noch in den europäischen Binnenmarkt zurückkehren könnte. Wenn er den Wählerauftrag ernst nimmt, wird er jedoch dauerhaft den Willen der Labour-Wähler kaum ignorieren können, von denen nach einer neuen Umfrage 80 Prozent ihr Land lieber wieder innerhalb der EU sehen würden. Mit einer historischen Parlamentsmehrheit im Rücken ist jetzt der richtige Zeitpunkt, den größten Fehler der britischen Politik in den vergangenen 50 Jahren zu korrigieren.“
Reue über die Fehlentscheidung
Großbritannien ist ein gutes Beispiel für die Folgen populistischer Politik, glaubt Kauppalehti:
„Es ist möglich, dass die EU Großbritannien nicht einmal zurückhaben möchte, selbst wenn es zurückkehren wollte. Die EU war über die Brexit-Entscheidung entsetzt und nun soll Großbritannien als abschreckendes Beispiel für andere dienen. Aber Großbritannien könnte jetzt eher bereit sein, seine Beziehungen zur EU zu verbessern und sich ihr wieder anzunähern. … Populistische Tagträume und das Zurückziehen in die eigenen Grenzen stehen in der gegenwärtigen Politik in Europa und der Welt hoch im Kurs. Großbritannien ist ein gutes Beispiel dafür, was passiert, wenn der Bevölkerung die Konsequenzen klar werden. Dann wollen die Menschen wieder Veränderung.“
Aus der Mitte regieren
The Sun, die erstmals seit 1997 wieder Labour unterstützt hat, fordert von Starmer, dass er seine überwältigende Mehrheit weise nutzt:
„Keir Starmer befindet sich in einer beispiellosen Position – er ist mit riesigem Vorsprung Sieger, aber die Nation ist noch nicht von ihm überzeugt. Das muss er ändern. Seine Partei darf sich gleichzeitig nicht der Illusion hingeben, dass ihr Triumph einen landesweiten Linksruck darstellt. Das ist nicht der Fall. Dies war hauptsächlich eine Abstimmung GEGEN die gespaltenen Tories. Labour muss das tun, was ihre Führung verspricht, und von der Mitte aus regieren. ... Wir sind weiterhin besorgt angesichts immer weiter steigender Steuern, hoher Sozialausgaben, legaler und illegaler Einwanderung und einem ruinösen Rennen zur Erreichung der Klimaneutralität.“
Konservative am Abgrund
Die erste Wahlanalyse von Echo24 lautet:
„Für die Konservative Partei ist es das schlechteste Ergebnis in der Geschichte. Schlimmer als die historische Niederlage von 1997. Aber wenn sich das Ergebnis bestätigt, ist es ein besseres Ergebnis als erwartet. ... Rund 130 Sitze geben den Konservativen genügend Kraft, weiterzumachen. Sie behalten auch ihren Status als offizielle Opposition, die an die zweitgrößte Partei geht und verschiedene Vorteile wie das Vorzugsrecht zur Befragung des Premiers bietet. Dieses Ergebnis gibt den Konservativen die Möglichkeit, über sich selbst nachzudenken und langsam ein Comeback zu planen. Aber es kann frühestens in fünf Jahren kommen. Die Konservative Partei ist bei den Wahlen nicht verschwunden, steht aber am Abgrund.“
Mehrheitswahlrecht stutzt Farages Erfolg
Die Sitzverteilung sollte nicht über den Wahlerfolg von Reform UK hinwegtäuschen, bemerkt Gazeta Wyborcza:
„Zur Niederlage der Tories trugen nicht nur ihre Fehler in der Regierung bei, sondern auch die Zersplitterung der rechten Wählerschaft. Ein Teil davon wurde von der Partei Reform UK übernommen, zu der Nigel Farage, einer der Vordenker des Brexit und Donald-Trump-Anhänger, zurückgekehrt war. ... Reform UK hätte ein besseres Ergebnis erzielt, wenn es nicht das Mehrheitswahlrecht gäbe, das die größten Parteien stark begünstigt. Die 13 Sitze [nach Prognosen] bedeuten, dass Millionen von Menschen für die Gruppierung von Farage gestimmt haben müssen.“
Rauswerfen gehört auch zur Demokratie
Für La Vanguardia passt das Wahlverhalten zum britischen Selbstverständnis:
„Die Engländer sind generell konservativ, weil sie glauben, dass sie viel zu bewahren haben. Es ist das Land der Antiquitätenhändler. ... Die Konservative Partei repräsentiert die Instinkte des Landes ziemlich gut. Aber wenn die Briten das Gefühl haben, dass die Regierung aus dem Gleichgewicht ist, werfen sie sie raus. ... Keir Starmers Labour-Partei wollte Rishi Sunak nicht wegschubsen. Sie hat ihn in der Bedeutungslosigkeit versinken lassen. ... Interessant: Während Europa nach rechts und rechtsaußen dreht, geben die Briten ihren Konservatismus an die Linke ab. In der Demokratie geht es nicht nur um Regierungsbildung, sondern auch darum, Regierungen abzusetzen.“
Starmer wird vorsichtig bleiben
Der Labour-Chef wird wohl gleich in seiner Antrittsrede die ambitionierten Erwartungen seiner Abgeordneten zügeln, prophezeit The Times:
„Man kann davon ausgehen, dass Starmer in etwa Folgendes sagen wird: Er wird keine Regierung für linke Aktivisten oder Protestierende führen. Die Menge an Geld, die der Labour-Regierung zur Verfügung steht, wird nicht direkt proportional zur Größe ihrer Mehrheit sein. Der versprochene Wandel wird kommen – in Sachen Wirtschaftswachstum, Kriminalität und beim NHS – aber diese fünf Jahre werden nicht einfach sein. ... So enttäuschend es für Labour auch klingen mag, Starmer wird nicht anfangen, Versprechungen zu machen, von denen er nicht glaubt, dass man sie halten kann.“
Sowohl Kontinuität als auch Wandel zu erwarten
Bei einigen Aspekten der Außenpolitik wird sich viel ändern, glaubt der britische Journalist Bill Emmott in La Stampa:
„Es wird eine Kontinuität zwischen Labour und den Konservativen in ihrer Haltung zum Krieg in der Ukraine und gegenüber Russland geben. Eine Haltung, die kurioserweise politisch so gut wie nicht diskutiert wird. Doch wird Starmer unter Druck stehen, Israel stärker zu kritisieren als Sunak, vor allem angesichts seiner Erfahrung als Menschenrechtsanwalt. Dies wird ein erster Test dafür sein, ob die neue Labour-Regierung bereit ist, mehr von der amerikanischen Politik abzurücken. Eindeutige Abweichungen von den konservativen Vorgängern wird es mit einem weicheren Ansatz gegenüber der EU und der illegalen Einwanderung geben.“