Putins neue Atom-Doktrin: Wird es gefährlich?

Wladimir Putin hat die im September angekündigte Veränderung der Nukleardoktrin Russlands unterzeichnet. Ein von einer Atommacht unterstützter konventioneller Angriff einer nicht nuklear bewaffneten Nation werde als gemeinsame Attacke aufgefasst, heißt es nun in dem Dokument. Auch wurde die für eine Reaktion mit Atomwaffen nötige Schwelle der Bedrohung Russlands herabgesetzt. Die Einschätzungen in den Medien gehen stark auseinander.

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La Repubblica (IT) /

Rüstzeug für das Duell mit Trump

Der Kreml macht sich für einen diplomatischen Showdown bereit, schreibt La Repubblica:

„Die Drohung des Kremls richtet sich zwar an Joe Biden, spricht aber eigentlich seinen Nachfolger an, indem zwei gegensätzliche Karten auf den Tisch gelegt werden. Putins Bereitschaft, mögliche Vorschläge Trumps zur Beendigung des Ukraine-Kriegs auszuloten, und seine Entschlossenheit, Atomwaffen einzusetzen, sollte sich Russland 'in Gefahr' befinden. Dies ist der Beginn der unvorhersehbaren und brutalen Kraftprobe zwischen Trump und Putin ... Sie kann zu einem neuen Jalta führen, indem die Einflusssphären in Europa, Afrika und Nahost neu definiert werden, um die aktuellen Konflikte zu beenden, oder es kann zu einem Frontalzusammenstoß zweier Führer ausarten, die bereit sind, alles zu tun, um sich gegen ihren Gegner durchzusetzen.“

Népszava (HU) /

Das Kaliber einer neuen Kuba-Krise

Die Lage ist so ernst wie nur einmal in der Geschichte, meint Népszava:

„Mit dieser Botschaft, die der russische Präsident offensichtlich als Antwort an Washington formuliert hat, hat er die Welt so nahe an den Ausbruch eines Atomkriegs gebracht wie zuletzt 1962, in der Zeit der Kuba-Krise. Es gibt subtile Unterschiede zwischen der damaligen und der heutigen Situation, aber nur subtile. ... Wenn es nicht möglich ist, die Situation in naher Zukunft umzukehren und den Prozess in Richtung einer Verhandlungslösung zu lenken, dann öffnet sich für Putin theoretisch die Möglichkeit, Atomwaffen so einzusetzen, dass der Gegner zwar nicht in die Knie gezwungen wird, aber mit traditionellen Waffen antworten wird, um einen nuklearen Weltkrieg zu vermeiden.“

Frankfurter Allgemeine Zeitung (DE) /

Keine neue Bedrohungslage

Für die Frankfurter Allgemeine Zeitung ändert sich durch die neue Doktrin nichts Wesentliches:

„Von Bedeutung ist nicht ihr Wortlaut, sondern ihre willkürliche Auslegung durch die Machthaber. ... Seit er [Putin] während der Annexion der Krim im Frühjahr 2014 die russischen Atomstreitkräfte in Bereitschaft versetzen ließ, spielt er mit der Drohung des Einsatzes von Atomwaffen, um konventionelle militärische Aggressionen abzusichern. Die Vorsicht des Westens bei der militärischen Unterstützung für die Ukraine ist die – wohlbegründete – Reaktion darauf. Dass der Kreml nun die Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen etwas weiter fasst und ein klein wenig schwammiger definiert, verändert die Bedrohungslage daher kaum.“

Corriere della Sera (IT) /

Muskelspiel für den Hausgebrauch

Die Atomdoktrin ist innenpolitisches Propagandafutter, wirft Corriere della Sera ein:

„Nachdem am Freitag die Nachricht aus den USA kam, ließ das russische Fernsehen sofort die Muskeln des patriotischen Stolzes spielen. ... 'Drei gut platzierte Raketen und die gesamte britische Zivilisation bräche zusammen und wäre für immer zerstört', tönte ein Militärexperte im ersten staatlichen Kanal und zeigte eine Karte mit allen Hauptstädten und sensiblen Orten in Europa, die von den Raketen seines Landes erreicht werden könnten. ... Es hilft wenig, dass einige kluge Medien und Personen, die die Absichten Putins und seines inneren Kreises wirklich kennen, den Rückgriff auf die Totalwaffe weiterhin ausschließen. Dies ist der Wind, der seit Jahren in Russland weht.“