75 Jahre Nato: Wie stark ist das Bündnis?
Der Nato-Gipfel in Washington hat der Ukraine weitere Unterstützung in ihrem Kampf gegen Russland zugesagt. Kyjiw soll innerhalb des nächsten Jahres 40 Milliarden Euro an Militärhilfe bekommen – inklusive zusätzlicher Luftabwehrsysteme und F-16-Kampfflugzeuge. Kommentatoren blicken mit Sorge in die Zukunft des Bündnisses.
Da hilft nur noch Gottvertrauen
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hält den Zustand des Verteidigungsbündnisses für fragil:
„Die Abschreckung der Nato und das Überleben der Ukraine hängen im Wesentlichen von einem einzigen Mann ab, der gerade seine Wahlchancen selbst geschmälert hat. Dass jeder Zentimeter des Nato-Gebiets verteidigt werde, wie Biden jetzt wieder sagte, gilt ohne Einschränkungen nur für den Fall, dass das Weiße Haus demokratisch bleibt. ... Dass Europas Schicksal vom Ausgang einer US-Präsidentenwahl abhängt, ist die wahre Misere. Nach der Krim-Annexion 2014 hatten die Europäer genug Zeit zum Aufrüsten. Jetzt ist es zu spät, und ein Drittel der Nato-Mitglieder erfüllt selbst heute noch nicht das Zweiprozentziel. Biden vertraut auf den Allmächtigen, sehr viel mehr bleibt den Europäern auch nicht mehr.“
Allianz schwach auf der Brust
Hospodářské noviny mahnt zu entschiedenem Handeln:
„Einen Tag vor dem Nato-Gipfel und wenige Tage nach der 'Friedensmission' von Putins Verbündetem Viktor Orbán in Moskau und Peking macht Russland deutlich, dass es in der Ukraine tun und lassen kann, was es will. Auf der Tagesordnung des Nato-Gipfels steht das langfristige Versprechen einer jährlichen militärischen Hilfe für die Ukraine und Unterstützung für ihren Weg in das Bündnis, doch die Realität sieht völlig anders aus. Während Russland Kinderkrankenhäuser in der ukrainischen Hauptstadt angreifen darf, darf die Ukraine aufgrund eines [im Mai gelockerten] Verbots westlicher Länder nicht einmal Militärstützpunkte auf russischem Territorium angreifen, von denen mit Raketen beladene Flugzeuge starten.“
Kein Grund zur Klage
Die Nato hat genug Gründe, um stolz zu sein, meint hingegen Dnevnik:
„Bis vor Kurzem war die Klausel, nach der die Mitgliedstaaten zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für die Verteidigung ausgeben sollten, problematisch. In zwei Dritteln der 32 Staaten ist dieses Niveau nun erreicht und im nächsten Jahr werden es wahrscheinlich drei Viertel sein. Eine umfassende Umstrukturierung der europäischen Verteidigungskapazitäten ist bereits im Gange. Die Nato-Staaten verfügen heute über fast 500.000 gut ausgebildete Soldaten für Verteidigungseinsätze. Die Rüstungsindustrie der europäischen Staaten wächst und modernisiert sich in rasantem Tempo.“
Europa muss allein klarkommen
Die USA werden ihre Interessen künftig verlagern, glaubt Kauppalehti:
„Die Vereinigten Staaten sind die führende Macht der Nato, ihr größter Geldgeber und eine nukleare Supermacht, auf deren Abschreckungsmacht sich die anderen Mitglieder verlassen haben. Die Aufmerksamkeit der USA verlagert sich jedoch zunehmend auf ihren Hauptgegner China. Für die europäischen Nato-Staaten bedeutet dies, dass sie nicht nur für ihre eigene Verteidigung, sondern auch für die Unterstützung der Ukraine in ihrem Krieg und beim Wiederaufbau mehr Verantwortung übernehmen müssen. ... Wer auch immer der [nächste US-]Präsident ist, es liegt nicht im Interesse der USA, dass Russland Europa destabilisiert. Aber wir müssen uns darauf einstellen, dass wir allein mit Russland klarkommen müssen.“
Hoffentlich endet es nicht wie 1914
Le Courrier warnt vor einer Spirale von Aufrüstung und Krieg:
„Diese militaristische Flucht nach vorne ist auch symptomatisch für die 'bewaffnete Globalisierung', während der sich die konkurrierenden Staaten um begrenzte Ressourcen und Märkte streiten und dabei immer häufiger auf rohe Gewalt zurückgreifen. Die brutale Beschleunigung dieses Prozesses und der Antagonismen, die er mit sich führt, ist voller Gefahren für die globale Bevölkerung: In mehrerer Hinsicht erinnert sie an die Spannungen zwischen Imperialisten, die 1914 zum Ersten Weltkrieg führten.“
Immer breiter aufgestellt
Jutarnji list schaut zurück:
„Der russische Angriff auf die Ukraine hat jede Illusion zerstört, dass die Welt sich nach dem Fall der Berliner Mauer zum Besseren gewandelt habe, dass Russland nun ein Partner sei, vor dem sich der Westen nicht fürchten müsse, und dass es keine Nato mehr brauche. Moskau gilt heute als die größte aller Bedrohungen, zwar nicht mehr als Hauptstadt des kommunistischen Blocks, sondern als Hauptstadt eines Landes, das benachbarte souveräne Staaten angreift und damit rechnet, sie in Anbetracht seiner Übermacht rasch erobern zu können. ... Deshalb knüpft die Nato auch außerhalb des euro-atlantischen Gebiets Partnerschaften mit Ländern, die demokratische und freiheitliche Rechte teilen, wie Australien, Neuseeland, Japan und Südkorea.“
Von wegen hirntot
Die Allianz präsentiert sich zu ihrem Jubiläum so stark wie lange nicht, analysiert Financial Times:
„Im Jahr 2019 wurde die Nato von niemand Geringerem als dem französischen Präsidenten als 'hirntot' bezeichnet. Doch heute ist sie größer, weil Schweden und Finnland beigetreten sind. Und sie hat an Gewicht gewonnen, weil die Mitgliedstaaten mehr für ihre Verteidigung ausgeben. In einigen Ländern wird sogar über die Wiedereinführung der Wehrpflicht nachgedacht. Was auch immer der Allianz fehlt, die diese Woche in Washington zusammenkommt – ein starker US-Präsident zum Beispiel –, es geht jedenfalls nicht darum, eine Existenzberechtigung zu finden. Für die hat der Kreml gesorgt.“
Nur "Brücke" statt Beitritt für die Ukraine
Ukrajinska Prawda kann eine gewisse Enttäuschung über Ton und Tempo der Beitrittsperspektive, welche die Nato der Ukraine in Aussicht stellt, nicht verbergen:
„Um die Bereitschaft zur Integration der Ukraine in das Bündnis zu bekräftigen und zugleich das Wort 'Einladung' zu vermeiden, das für Joe Biden persönlich eine rote Linie darstellt, schlug das US-Außenministerium vor, eine sogenannte 'Brücke zur Nato' anzukündigen. ... So wird die Abschlusserklärung des Nordatlantik-Rates eine Klausel enthalten, die besagt, dass die Politik des Bündnisses gegenüber der Ukraine eine 'Brücke zur Mitgliedschaft' schafft, die letztendlich zum Beitritt unseres Landes zum Bündnis führen soll. Und das wird auf dem Gipfel als Erfolg für die Ukraine 'verkauft' werden.“
"Unumkehrbar" ist das Schlüsselwort
Entscheidende Veränderungen im Vergleich zum Vorjahresgipfel sieht dagegen Avvenire:
„Der Weg der Ukraine in Richtung Nato-Mitgliedschaft ist 'unumkehrbar'. ... Es wird erwartet, dass das Abschlusskommuniqué des Gipfels der Atlantischen Allianz diese Worte des scheidenden Generalsekretärs Jens Stoltenberg bestätigen wird. … Das stellt einen klaren Wendepunkt dar und ist eine Antwort auf die zunehmend verzweifelten Gesten Wladimir Putins wie die Bombardierung eines Kinderkrankenhauses. Ein Wendepunkt vor allem im Vergleich zum Gipfel von Vilnius im vergangenen Jahr, als die Nato keinerlei Anstrengungen unternahm, einen klaren Weg für den Beitritt der Ukraine aufzuzeigen.“
Putin reibt sich bereits die Hände
Le Soir machen die aktuellen politischen Entwicklungen zu beiden Seiten des Atlantiks Sorgen:
„Im gegenwärtig toxischen Klima wird die Nato versuchen, ihre Position abzusichern und ihre Unterstützung für die Ukraine zu 'institutionalisieren'. Doch im Hintergrund sorgen die mehr oder weniger pro-russischen souveränistischen und extremistischen Bewegungen für Besorgnis bei den unerschütterlichen Anhängern Kyjiws. Ein Sieg von Donald Trump am 5. November könnte einen ernsthaften Keil in die bisherige europäische Einheit treiben, die unserem Nachbarn im Angesicht des russischen Angreifers entgegengebracht wurde. Putin reibt sich bereits die Hände.“