Macron bescheinigt der Nato den "Hirntod"
Frankreichs Präsident sorgte in einem am Donnerstag in The Economist veröffentlichten Interview mit der Aussage für Aufsehen, die Welt erlebe derzeit den "Hirntod der Nato". Es fehlten Absprachen bei strategischen Entscheidungen, und das Nato-Land Türkei zeige ein "unkoordiniertes, aggressives" Vorgehen. Kommentatoren aus osteuropäischen Nato-Staaten zweifeln nun an der Verlässlichkeit Frankreichs.
Ist auf Paris noch Verlass?
Es sind Aussagen wie die von Macron, die dem Verteidigungsbund zusätzlich schaden, kritisiert Polityka:
„Trotz aller Spaltungen ist das Bündnis der einzige Verteidigungsmechanismus der westlichen Welt und es zeigt von Zeit zu Zeit mit gemeinsamer und konzertierter Anstrengung, dass es auf eine Verteidigung vorbereitet ist. Wenn Frankreich diese Tatsachen untergräbt, muss man seine Absichten hinterfragen, und es entsteht die Sorge, ob es seine Verpflichtungen erfüllt, wenn es hart auf hart kommt. ... Was folgt, ist tiefe Verwirrung. Die Länder im Osten der Nato, die die russische Bedrohung stärker spüren als Frankreich, werden sich noch stärker mit Washington verbünden, weil es für sie keine Alternative gibt und sie die Auswirkungen des angekündigten Endes fürchten. “
In Estland sieht der Westen ganz anders aus
Der estnische Außenminister Urmas Reinsalu widerspricht Macrons Position, zitiert die Tageszeitung Eesti Päevaleht:
„Diese Einschätzung repräsentiert in keiner Weise die Entwicklung der Nato. Das wird für uns besonders durch die Präsenz französischer Soldaten in Estland im Rahmen der kollektiven Verteidigung der Nato symbolisiert. Die Verteidigungsetats der EU-Mitgliedstaaten und Kanadas wachsen seit fünf Jahren. Es liegt im estnischen Interesse, die europäische, verteidigungspolitische Zusammenarbeit weiter zu stärken und damit die Nato zu unterstützen, ohne sie zu duplizieren. Die Aufrechterhaltung und Ausweitung der transatlantischen Beziehungen gehören zur Arbeit, die von allen Partnern geleistet werden muss, da sie auch allen Parteien zugute kommt.“
Das Bündnis ist so lebendig wie lange nicht
Macrons Kritik an Trump klingt zwar überzeugend, aber man sollte den Präsidenten nicht mit den USA gleichsetzen, meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung:
„Paradoxerweise haben die Vereinigten Staaten gerade in den vergangenen drei Jahren immer mehr Milliarden Dollar in die Rückversicherung der Alliierten an der Ostflanke investiert. Die amerikanischen Truppen haben Europa nicht verlassen - sie sind zurückgekehrt. Im nächsten Jahr werden 20.000 Soldaten zu einer Großübung über den Atlantik nach Europa kommen. Das hat es seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gegeben. Dahinter steht nicht Trump, sondern der Wille im amerikanischen Kongress, an Europa als engstem Verbündeten festzuhalten. “
Elefant im Porzellanladen
Dagens Nyheter bemängelt, Macron benehme sich ziemlich unsensibel - nicht zum ersten Mal:
„Eigentlich ist es gut, dass Macron Verantwortung übernehmen will. Doch als er Merkel in ein föderalistisches Experiment mit einer finanzpolitischen Union und einem gemeinsamen Eurozonen-Budget hineinziehen wollte, verrannte er sich. Der Präsident schlug mit Forderungen um sich, aber ignorierte Einwände. Macrons außenpolitische Offensive kommt ähnlich daher und weckt die gleichen Irritationen. Er will Russland wieder in die Wärme lassen, trotz Putins Krieg gegen die Ukraine. Er allein widersetzt sich einem Brexit-Aufschub. Er blockiert die EU-Beitrittsverhandlungen von Nordmazedonien und Albanien. Und obwohl seine erste Kandidatin für die [EU-]Kommission gescheitert ist, besteht er weiter auf einem Superposten für Frankreich, der alle Industriepolitik nach dessen Vorlieben lenkt.“
Hallo Frau Merkel - sind Sie noch da?
Frankreichs Präsident Macron ist der einzige, der in und für Europa Führungsansprüche anmeldet, klagt Michel Kerres in seiner Kolumne in NRC Handelsblad:
„Während Bundeskanzlerin Merkel durch Abwesenheit glänzt, die neue EU-Kommission noch nicht loslegen darf und der britische Premier Johnson im Wahlkampf ist, gibt es viel Spielraum für den französischen Präsidenten Macron - und den nutzt er gerne. ... Europa stehe am Rande des Abgrunds, sagt Macron. Wenn Europa sich nicht schnell als geopolitische Kraft profiliere, sei es nicht mehr Herr über sein eigenes Schicksal. Macron scheut dramatische Befunde nicht, aber was erreicht er effektiv? ... Wenn Macron in Europa und im Namen Europas etwas erreichen will, muss er europäische Koalitionen schmieden. Aber dann muss es auch mächtige Partner geben, die mitmachen wollen. Frau Merkel? “