Ex-Kanzlerin Angela Merkel blickt zurück
Am heutigen Dienstag erscheinen die Memoiren der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel. Der Inhalt der 700-seitigen, in 30 Sprachen übersetzten Biografie "Freiheit: Erinnerungen 1954 - 2021" wurde streng geheim behandelt. Europäische Kommentatoren werfen einen bewertenden Blick auf Merkels Leben und Regierungszeit.
Die Geschichte ihrer beider Leben
Angela Merkel ist eine wichtige Zeitzeugin des Deutschlands vor dem Mauerfall, erklärt der Historiker Timothy Garton Ash in La Repubblica:
„Angela Merkel war die erste und letzte Ostdeutsche an der Spitze des wiedervereinigten Deutschlands, der Schlüsselmacht Europas. Es mag künftige Bundeskanzler aus den Regionen geben, die einst die Deutsche Demokratische Republik (DDR) bildeten, aber keiner wird mehr von der Erfahrung geprägt sein, im [damaligen] Ostdeutschland gelebt zu haben. Dies und nicht die Enthüllungen über die wichtigen Entscheidungen, die sie als Bundeskanzlerin in 16 außergewöhnlichen Jahren getroffen hat, ist das wirklich interessante Element von Merkels Memoiren mit dem Titel Freiheit. Sie nennt es 'die Geschichte meiner beiden Leben', und der Punkt ist, wie sehr das erste Leben das zweite beeinflusst hat.“
Mit ihr gingen Maß und Mitte
El País beginnt, die ehemalige Kanzlerin zu vermissen:
„Seit ihrem Abschied rennt Europa herum wie ein kopfloses Huhn. ... Gespalten, orientierungslos, besorgt über einen russischen Angriff. ... Merkel ging in dem Wissen, dass sie ihre Freundin Ursula von der Leyen an der Spitze der Europäischen Kommission zurücklässt, deren Effektivität als Ministerin sie erkannt hatte. ... Von der Leyens Kommission steht viel weiter rechts und umwirbt die italienische Premierministerin. .... Was denkt Merkel über diesen Wandel, und kann man wirklich mit den dunkelsten Kräften des Kontinents kooperieren? Vielleicht werden wir die diskrete und so gar nicht arrogante Angela Merkel vermissen. ... Sie hat ihren Ansatz immer als 'eine Politik von Maß und Mitte' definiert. Mitte, nicht rechts außen.“
Auch Mutti hatte Schwächen
Für Jyllands-Posten wird deutlich, dass sich die Zeiten nach dem Ende des Kalten Krieges deutlich geändert haben und Entscheidungen hinterfragt werden müssen:
„In der neuen Ära wurde deutlich, dass Merkels Pragmatismus zugleich ihre Schwäche war. Es wurde nicht genug über die Zukunftsfähigkeit des Wohlstands nachgedacht, es wurden nicht die notwendigen und schwierigen Entscheidungen getroffen, um das Erreichte militärisch zu verteidigen, und die Sichtweise auf die Gegner des Westens wie Wladimir Putin und Xi Jinping war oft unverzeihlich naiv. Deshalb ist es nur recht und billig, dass wir jetzt ein ehrliches Gespräch über Mutti, ihre Tugenden und Schwächen führen. Es sind die hohen Ansprüche, die Merkel an die Kanzlerschaft gestellt hat, die ihren Nachfolger Olaf Scholz wie ein substanzloses Leichtgewicht aussehen lassen.“