Baltikum löst sich vom russischen Stromnetz
Ein lange vorbereiteter und technisch komplizierter Schritt ist am Wochenende ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen: Estland, Lettland und Litauen haben am Samstag die letzte Verbindung zum postsowjetischen Elektrizitätssystem, dem sogenannten Brell-Ring, gekappt und ihre Stromnetze mit dem übrigen Europa synchronisiert. Kommentatoren würdigen den Wechsel als historisch, betonen aber auch, dass damit neue Herausforderungen verbunden sind.
Historischer Wendepunkt
Ein wichtiges Zeichen von Souveränität sieht France-Inter-Kolumnist Pierre Haski in diesem Schritt:
„Durch den Anschluss an das europäische Netz vollenden die drei baltischen Staaten ihre historische Wende, die sie begonnen haben, als sie der UdSSR und später Russland den Rücken kehren konnten. Auch die Ukraine und die kleine Republik Moldau haben ihre Energieversorgung in Richtung der EU neu ausgerichtet, da der ehemalige große Bruder Russland wieder zur Bedrohung geworden ist. Ohne viel Aufsehen zu erregen, baut sich dieses Europa auf und wächst immer mehr zusammen: Das ist eine der Folgen von Putins schicksalhafter Entscheidung, die Ukraine zu überfallen – ein herber Verlust für Russland.“
Ein Erfolg europäischer Solidarität und Einheit
In Rzeczpospolita beurteilen die Energieexperten Maciej Jakubik und Susanne Nies die Abkopplung in zweifacher Hinsicht positiv:
„Der Weg zur Synchronisierung [mit dem europäischen Verbundsystem] war lang und schwierig, aber die Vorteile sind erheblich. Es ist ein historischer Schritt in Richtung Energiesicherheit und -unabhängigkeit, der es den baltischen Staaten ermöglichen wird, sich frei von externer Manipulation zu entwickeln. Er stärkt auch die umfassendere Vision eines sicheren, vernetzten und widerstandsfähigen europäischen Energiemarktes, indem er die Stärke der europäischen Einheit und Solidarität demonstriert.“
Teuer erkauft – zumindest vorerst
Die ersten Auswirkungen sind für die Menschen in Lettland eher negativ, merkt Neatkarīgā an:
„Nachdem die Verbindung der baltischen und polnischen Stromübertragungssysteme ohne Zwischenfälle gelungen ist, wird, was gestern noch ein Grund zum Feiern war, heute Alltag. Das äußert sich unter anderem in Briefen wie diesem von einem lettischen Stromhändler, in dem es heißt: 'Wir haben Ihre Vorauszahlung neu berechnet. Ab Februar zahlen Sie monatlich 22,06 Euro.' Im Januar waren es noch 17,68 Euro gewesen. .. Kurz: Seit Sonntag wirkt in Lettland ein weiterer strompreissteigernder Faktor, während preissenkende Faktoren erst in Form von Zukunftsversprechen existieren.“
Zum Glück gezwungen
Litauen stellt gleichzeitig auch die Struktur seiner Energiegewinnung grundlegend um, hebt IQ hervor:
„Die größte Herausforderung liegt noch vor uns: Litauen vom Stromimporteur zu einem starken Energieerzeuger für die Region zu machen, indem wir Strukturen schaffen, um Stromüberschüsse aus erneuerbaren Quellen zu exportieren. ... Bis vor Kurzem klang dies utopisch für ein Land ohne fossile Rohstoffe. Doch der Krieg in der Ukraine war vielleicht der Anstoß, den wir brauchten, um endlich mutige Entscheidungen zu treffen – und, noch wichtiger, sie konsequent umzusetzen. Der Anteil erneuerbarer Energien wächst rasant. ... Bereits 2023 wurden rund 50 Prozent des Stroms im Land erzeugt, und der Anteil von Solar- und Windkraftanlagen am Energiemix steigt weiter.“
Noch bleiben viele Abhängigkeiten
Eesti Päevaleht freut sich, fordert aber weitere Maßnahmen:
„Die Umschaltung des Stromnetzes ist nur ein Teil der Lösung für Estlands größtes Energieproblem. Wir haben immer noch zu wenig Kapazitäten, hohe Preise und Estlink 2 ist kaputt. ... Wir können erst dann beruhigt sein, wenn wir in der Lage sind, den wachsenden Energiebedarf Estlands wenn nötig selbst zu decken, und nicht nur an windigen Tagen. Darüber hinaus müssen unsere Energiepreise mit denen der nordischen Länder konkurrieren können – am 12. Februar beispielsweise wird der durchschnittliche Börsenstrompreis in Estland viereinhalb Mal so hoch sein wie in Finnland. Und drittens brauchen wir natürlich ausreichend leistungsfähige Außenverbindungen, die auch funktionsfähig sind – und unempfindlich gegenüber den Ankern der russischen Schattenflotte.“
Risikofaktor Moskau ausschließen
Gazeta Wyborcza erklärt, warum die Entkopplung nötig ist:
„Derzeit sind die Stromnetze der baltischen Staaten Teil eines während der Sowjetära geschaffenen Systems, das nun von Russland aus verwaltet wird. Dies birgt geopolitische und energiepolitische Risiken für die baltischen Staaten. ... Störungen der Stromfrequenz assoziiert man gewöhnlich mit flackernden Glühbirnen. Aber es geht um größere Probleme, zum Beispiel die Verlangsamung von elektrischen Geräten oder ihre Überhitzung. Die baltischen Staaten sind auch den Auswirkungen möglicher Defekte im russischen Netz ausgeliefert. Und Moskau hatte es schon lange vor dem Angriff auf die Ukraine mitunter nicht eilig, Ausfälle in den Energieverbindungen mit den baltischen Staaten zu beheben.“
Kaliningrad wird zur Energie-Insel
LA.LV unterstützt den Schritt:
„Ja, es gibt Bedenken, dass es durch die veränderte Synchronisierung zu Stromausfällen und höheren Kosten für die Übertragung kommen könnte. Doch womit hat man uns nicht alles gedroht seit unserem Entschluss, aus der Sowjetunion auszutreten und uns der westlichen Staatengemeinschaft anzuschließen! ... Noch schmerzhafter für Russland ist die Tatsache, dass sich die baltischen Staaten wegen des russischen Krieges gegen die Ukraine und der Bedrohung anderer Nachbarstaaten entschieden haben, sich vollständig vom Elektrizitätssystem der Region Kaliningrad abzuschotten. ... Infolgedessen befindet sich die Region Kaliningrad derzeit in einer Art Energie-Isolation. Wie eine Insel, die alleine mit Frequenz, Stromknappheit und -überschuss klarkommen muss.“
Die letzte Fessel kappen
Energieexperte Valdemar Fiodorovič beschwichtigt in IQ:
„Für Litauen und die anderen baltischen Staaten ist dies ein historischer Moment: die Abkopplung vom sowjetischen Energiering Brell. ... Es kursieren – oft von feindlichen Kräften befeuerte – Gerüchte, dass der Schritt zu massiven Stromausfällen oder drastisch steigenden Preisen führen könnte. Doch für die meisten Verbraucher wird sich kaum etwas ändern. ... Über Jahre hinweg war die Brell-Verbindung eine Art Nabelschnur, die Russland für energetische Erpressung nutzte – ähnlich wie bei Öl- und Gaslieferungen. Während die Abhängigkeit von letzteren Ressourcen bereits überwunden wurde, blieb die Stromverbindung eine der letzten Fesseln, die Litauen daran hinderte, die Kontrolle über sein eigenes Energiesystem vollständig zu übernehmen.“
Ein hoffentlich unauffälliger Riesenschritt
Der Chef des estnischen Netzversorgers Elering, Kalle Kilk, erklärt in Maaleht:
„Wenn alles nach Plan läuft, wird es niemandem auffallen, aber der Schritt ist von seiner Bedeutung her vergleichbar mit der Einführung der Krone [die 1992 den Rubel ersetzte und 2011 dem Euro wich] oder dem EU-Beitritt. Mit diesem lange vorbereiteten Schritt verringern wir die geopolitischen Risiken und machen uns völlig unabhängig von Russland, das immer noch einen gewissen Einfluss auf unser Stromnetz und unseren Markt hat. ... Wir haben uns seit Jahrzehnten darauf vorbereitet, das russische Stromnetz zu verlassen, besonders intensiv seit 2018-2019. Wir haben erhebliche Investitionen getätigt, um unser Stromnetz zu stärken, mit Hunderten von Millionen Euro an EU-Geldern.“