Zerbricht der Flüchtlingspakt mit Ankara?
Ankara hat wiederholt gedroht, den Flüchtlingsdeal mit der EU platzen zu lassen, sollten die Türken keine Visafreiheit bekommen. Bereits Anfang August wurden türkische Beamte aus Griechenland abgezogen, die bei der Rückführung von Flüchtlingen mitarbeiten sollten. Der Pakt ist von Seiten der EU weder politisch gewollt noch praktisch nötig, analysieren Kommentatoren.
EU-Politik frustriert Geflüchtete
Griechenland hat am Donnerstag den zweiten Tag in Folge Flüchtlinge in die Türkei zurückgeschickt. Die Abschiebungen sind die ersten nach dem Putschversuch und erfolgen im Rahmen des Flüchtlingspakts zwischen der EU und Ankara. Die EU hat ihr Ziel erreicht, aber nicht wegen des besagten Deals, betont die Tageszeitung Efimerida ton Syntakton:
„Die großen Verzögerungen im Asylverfahren, die Tatsache, dass die Flüchtlinge auf den Inseln festsitzen, die geschlossenen Grenzen der Festung Europa und die ungewisse Aussicht auf ein Leben in Sicherheit und Würde in Europa sind offenbar viel zielführender als der EU-Türkei-Deal selbst. Es scheint, als ob zumindest in einigen Fällen ein Erfolg zu verzeichnen ist, auch wenn es menschenfeindlich ist, den Flüchtlingen das Leben unerträglich zu machen, so wie es die EU-Politik derzeit tut. Griechenland zeigt Europa mal wieder den Weg, aber dieses Mal scheint das Ergebnis der endgültige Verlust der europäischen Werte zu sein.“
Doppelstandards bei EU-Visafreiheit
Der Türkei Visafreiheit vorzuenthalten, ist von der EU politisch gewollt, analysiert Hürriyet Daily News:
„Es ist klar, dass Europa eine Entscheidung zur Visafreiheit treffen muss, wenn es weiterhin bei Themen wie der illegalen Einwanderung von Flüchtlingen und der Terrorbekämpfung mit der Türkei kooperieren will. Das dürfte eigentlich nicht schwer sein, da Ankara die meisten technischen Vorbedingungen erfüllt hat. Dass die EU die Türkei weiter hinhält, liegt wohl eher an politischen als praktischen Überlegungen: Letztendlich können Bürger von Mexiko (122 Millionen Einwohner), Kolumbien (47 Millionen) und Venezuela (30 Millionen) - um nur ein paar zu nennen - ohne Schengenvisum nach Europa einreisen, obwohl ihre Länder keine Beitrittskandidaten sind. Diese Staaten stehen auch nicht weit oben auf der Liste demokratischer Länder, die Menschenrechte respektieren. Viele Türken haben diese Widersprüche lange nicht interessiert, doch sie lernen schnell dazu.“
Grenzen dicht machen, bevor es zu spät ist
Wenn der Flüchtlingspakt mit der Türkei platzt, muss Bulgarien gewappnet sein, mahnt der Standart:
„Laut Ungarns Premier Viktor Orbán haben Migranten aus insgesamt 101 Ländern die Balkanroute über Ungarn passiert. Offensichtlich waren das nicht nur politisch Verfolgte oder Kriegsflüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. ... Die europäische Flüchtlingspolitik hat versagt. Eine gesamteuropäische Lösung gibt es nicht, die Länder sind dazu übergegangen, ihren Grenzschutz selbst in die Hand zu nehmen. ... Bulgarien kann nicht länger abwarten, zumal es sich auf niemanden verlassen kann außer auf die Visegrád-Staaten. Wir müssen uns schützen, denn jeden Moment könnten Horden von Flüchtlingen losgelassen werden, die nirgendwo anders hingehen können als nach Bulgarien.“
Griechenland schon jetzt völlig überfordert
Ein Ende des Flüchtlingsabkommens mit der Türkei brächte die Inkompetenz der griechischen Regierung noch stärker als bisher ans Tageslicht, schimpft Dimokratia:
„Griechenland wäre mit der größten Last und der größten Bedrohung konfrontiert. Das würde das ganze Land in die Luft sprengen. ... Auf den Inseln Lesbos, Chios, Kos und Samos ist der Tourismussektor schon jetzt ruiniert. ... Die griechischen Politiker haben große Versprechen gemacht, die Grenzen geöffnet, die Flüchtlinge und Migranten nach Griechenland eingeladen, ohne einen Plan und eine Infrastruktur vorbereitet zu haben und den Pakt mit Ankara unterzeichnet. An den rund 60.000 armen Flüchtlingen, die [nach der Schließung der Balkanroute] in Griechenland festsitzen, wird der Mangel an Organisation und Verantwortungslosigkeit der Regierenden sichtbar, der bereits alle bisherigen Rekorde übertroffen hat.“
Westen ist einfach machtlos gegen Erdoğan
Der türkische Präsident spielt den Kraftmeier und kann sich das leider auch leisten, klagt La Repubblica:
„Erdoğan fürchtet Europa nicht. Er erpresst es mit Flüchtlingen, die er in jedem Moment als Waffe einzusetzen bereit ist. Er hat auch keine Angst vor der Nato, denn er verfügt über die zweitstärkste Armee des Bündnisses, und auch nicht vor den Vereinigten Staaten. Ganz im Gegenteil: Mit der Blockade des Militärstützpunkts İncirlik bedroht er die USA, die diese als Basis für ihre Missionen gegen den IS im Irak und in Syrien benutzen. Wir haben leider wenig Mittel, um den neuen Sultan zu stoppen. In der kommenden Woche trifft er mit Putin zusammen, nach Monaten der Eiszeit. Sie werden sich prächtig verstehen. Sie sprechen die gleiche Sprache und haben die gleiche Einstellung zur Macht.“
Kann Merkel ihren Kurs halten?
Der Druck aus Ankara wird letztlich wohl die Flüchtlingspolitik Berlins ändern, glaubt die Tageszeitung Večer:
„Nun, wo Erdoğan seine Anhänger vor Merkels Nase mobilisiert hat und mehrere zehntausend Menschen durch deutsche Städte marschierten, ist klar, dass er seine Armee überall in Europa nach Belieben an- und ausschalten kann. In der Türkei befeuert Erdoğan eine negative Meinung gegen Deutschland, indem eine ihm nahestehende Zeitung eine Fotomontage von Merkel als Hitler zeigte. ... Die gute Seite des Ganzen ist, dass Angela Merkel nun endlich beginnen wird, mit den EU-Führern über gemeinsame Lösungen zu sprechen, statt einfach ihre eigenen zu präsentieren. Aber ist sie noch stark genug dafür? Hat sie angesichts der Wahlen noch Zeit dafür? Sie wird alles so lang wie möglich hinauszögern, wohl bis zum EU-Gipfel im Herbst. Und dann werden wir sehen, was ihr eingefallen ist und ob sie die Kraft hat, ihre Lösungen auch umzusetzen.“
Flüchtlingskrise selbst in die Hand nehmen
Völlig inakzeptabel sind die türkischen Drohungen für die Pravda:
„Das Ultimatum von Erdoğans Außenminister ist nach den Säuberungen unerfüllbar. Es ist deshalb gut, dass der deutsche Vizekanzler Gabriel eine klare Ansage machte: 'Deutschland darf sich von der Türkei nicht erpressen lassen.' Denn danach würde Erdoğan nur mit weiteren neuen Forderungen kommen. ... Europa muss beginnen, sich auf sich selbst zu verlassen. Die Milliarden, die Brüssel Ankara versprach, sollten besser in den Schutz der griechischen Außengrenze gesteckt werden. Das Geld ist da, es mangelt nur am Willen. Dabei ist klar, dass sich die Migrationskrise weiter zuspitzen wird. Wenn die Europäer ihre Sicherheit nicht in ihre eigenen Hände nehmen, könnte es in ein paar Jahren zu spät sein.“
Größenwahnsinniger will Europas Willen brechen
Erdoğan und die türkische Regierung gehen zu weit, schimpft ABC:
„Die Visafreiheit ist politisch und rechtlich nicht umsetzbar. Außerdem birgt sie ungemeine Risiken, jetzt, wo sich Erdoğan mit Gewalt und ohne Skrupel sein Land nach Maß fabriziert. Wenn er seine Militäraktionen in einigen Regionen des Landes verstärkt, könnte das zu einem Exodus von Millionen von Kurden nach Europa führen. Und andere hunderttausende Türken könnten ins Exil flüchten. ... Ankara hat das Verbot [für Erdoğan] verurteilt, sich live über Bildschirme an seine 20.000 Gefolgsleute in Köln zu wenden. Das deutsche Verfassungsgericht hatte das verboten. Erdogan denkt wohl, er könne Deutschlands Innen- und Außenpolitik beeinflussen. Und jetzt will er die Flüchtlinge in der Türkei einsetzen, um mit ihnen sein größenwahnsinniges Vorhaben voranzutreiben: Seine Diktatur legitimieren, den Willen der Europäer brechen und zur Macht aufsteigen, die den gesamten Kontinent destabilisiert.“
EU muss Ruhe bewahren
Trotz aller Drohungen Ankaras tut die EU gut daran, weiter Kontakt zu halten, empfiehlt Der Standard:
„Die Türkei setzt gerade alle Chancen auf enge Partnerschaft mit der EU aufs Spiel. Das grenzt bei einem Land, das ein riesiges Handelsbilanzdefizit aufweist (gut zehn Prozent aller Exporte gehen nach Deutschland), an Harakiri. Bald könnte es mit Krediten eng werden, dann mit Investitionen. Wie sollen die EU-Staaten also reagieren? Anders als Erdoğan müssen die Unionsvertreter besonnen bleiben, aber umso bestimmter auftreten, wenn es um den Erhalt von Vereinbarungen und Verträgen geht, insbesondere die Achtung der Menschenrechte. Europa hilft der türkischen Bevölkerung, den Verfolgten, nicht zuletzt den Millionen syrischen Flüchtlingen in der Türkei am meisten, wenn es weiterhin versucht, seinen Einfluss auf allen Ebenen zu nützen – diplomatische Härte nicht ausgeschlossen.“
Türkei hat viel mehr zu verlieren
Die EU braucht sich von der Türkei nicht einschüchtern lassen, kommentiert Die Welt:
„Das Ultimatum macht einmal mehr deutlich, dass derzeit in der Türkei andere Werte gelten als in Europa. Brüssel und Berlin reagieren indes zu Recht gelassen auf die neuen Drohungen. Der Flüchtlingsstrom ist heute viel kleiner als noch vor Monaten. Doch diese Entwicklung ist nicht der Türkeivereinbarung zu verdanken. Vielmehr hält die Schließung der Balkanroute durch Länder wie Mazedonien, Ungarn und Österreich Flüchtlinge davon ab, über die Türkei in die EU einzuwandern. ... Die EU zahlt wie vereinbart eine Menge Geld, um die Türkei bei der Versorgung von Flüchtlingen zu unterstützen. Ankara hat somit viel zu verlieren. Einen Bruch mit Europa wird Erdoğan allen Drohgebärden zum Trotz nicht riskieren - auch wenn die Visumfreiheit nie kommt.“