Konfrontation der Weltmächte in Syrien
Nach dem Abbruch der Syrien-Gespräche durch die USA und der Blockade einer UN-Resolution durch das Veto Russlands sind die Beziehungen zwischen beiden Mächten auf dem Tiefpunkt. Am Samstag wollen die Außenminister beider Staaten, Kerry und Lawrow, in Lausanne zusammenkommen, um die Lage zu deeskalieren. Kommentatoren erörtern die Chancen auf Entspannung und eine Waffenruhe für Syrien.
Entscheidend ist, wer am Tisch sitzt
Für den Erfolg der Syrien-Konferenz wird die Teilnehmerliste ausschlaggebend sein, unterstreicht die regierungstreue Star:
„Die Türkei, Saudi-Arabien und Katar werden als Unterstützer der 'sunnitischen' Opposition in Syrien und auch dem Irak gesehen; die Führung in den Hauptstädten beider Länder hat sie zu unerwünschten Staaten erklärt und für die USA stehen sie auf der Liste der Verbündeten, mit denen sie sich am wenigsten einig sind. Wenn die Teilnehmer auf diese begrenzt sind, kann sich die Konferenz in verschiedene Richtungen entwickeln. Erstens besteht die Möglichkeit, dass Russland bei den Streitthemen zwischen USA und den oben genannten Länder vermittelt. .... Andererseits ist ein Tauwetter zwischen beiden Supermächten fraglich, wenn die Regionalmacht Iran nicht eingeladen wird. Man muss eingestehen, dass man von einer Lausanne-Konferenz keine Lösung erwarten kann, wenn der Iran und auch Israel nicht anwesend sind.“
Opfer interessieren uns nur, weil wir verlieren
Die Bedeutung, die den zivilen Opfern in Syrien beigemessen wird, gibt Aufschluss über die jeweilige Auffassung der Kriegslage, analysiert Le Jeudi:
„Man muss die Dinge beim Namen nennen: Dass im Westen mehr über Opfer als über Strategien gesprochen wird, liegt vor allem daran, dass 'wir' dabei sind, diesen Krieg zu verlieren. Der Beweis ist, dass wir das Schicksal der Zivilisten im Jemen, die genauso stark leiden, kaum erwähnen. Wir verlieren den Krieg vor Ort, haben aber trotzdem irgendwie den Eindruck, ihn auch zu gewinnen, da wir 'menschlicher' als Russland und Baschar al-Assad sind. Die Russen haben es geschafft, im Nahen Osten wieder einen Fuß in die Tür zu bekommen, und sind entschlossen, dort zu bleiben. Der Kreml wird sich von dem Massaker an Zivilisten nicht abhalten lassen. ... Der Grund: Die Schlacht um Aleppo ist geopolitisch so vielversprechend, dass das Schicksal der Zivilisten das russische Regime nicht allzu sehr kümmert.“
Liegt alles an Russlands schwacher Wirtschaft?
Der niedrige Ölpreis könnte ein Grund sein für Russlands militärisches Engagement in Syrien, spekuliert Kaleva:
„Die russisch-amerikanischen Beziehungen haben sich schnell und besorgniserregend verschlechtert. Innerhalb weniger Monate haben sich die beiden Länder den eisigsten Zeiten des Kalten Krieges angenähert. … Das Schlüsselwort lautet Öl, denn dessen Preisentwicklung passt Russland nicht. Es ist möglich, dass Putin versucht, durch seine Einmischung in Syrien den Öl-Weltmarktpreis nach oben zu treiben. Außer dem billiger gewordenen Öl machen Russland die Wirtschaftssanktionen zu schaffen, die der Westen als Reaktion auf die Krim-Besetzung verhängt hat. Russland leidet unter einem beachtlichen Haushaltsdefizit, das dazu führt, dass die Pensions- und Sozialfonds angetastet werden müssen. Die Abkühlung der Beziehungen zum Westen hat in erster Linie innenpolitische Gründe.“
In Syrien gelten alte Spielregeln nicht mehr
Wer Verbündeter und wer Feind ist, kann sich in Syrien schnell und je nach dem Ort des Geschehens ändern, beobachtet die regierungsnahe Tageszeitung Yeni Şafak:
„Es ist fast unmöglich, die unglaublichen Veränderungen im Nahen Osten der letzten fünf Jahre zu verstehen. Die Situation ist mit konventionellen politischen Mitteln nicht mehr zu lösen. Der politische Boden ist so rutschig, so variabel und so unzuverlässig, dass jahrelange diplomatische Regeln, internationale Abkommen und Allianzen mitunter plötzlich nicht mehr gelten. ... Schauen Sie sich die Situation in Syrien an. Westlich des Euphrat sind wir [Türken] Rivalen der USA und Verbündete Russlands. Östlich des Euphrat sind wir Rivalen Russlands und teilweise Verbündete der USA. ... In Syrien bilden die Länder also nahezu je nach Stadtteil verschiedene Allianzen, konkurrieren oder bekriegen sich. Das ist eine sehr verwirrende, gefährliche und riskante Situation.“
Warum Obama nur im Irak eingreift
Barack Obama hat die US-Militärpräsenz im Irak für die geplante Erstürmung der IS-Hochburg Mossul wieder verstärkt, lehnt einen Einsatz in Syrien jedoch weiter ab. Eine Erklärung für das Paradox versucht Le Vif/L'Express zu liefern:
„In demokratisch regierten Ländern, wo bereits der geringste militärische Eingriff für Aufruhr sorgt, stellt sich eine legitime Frage: Kann man sich damit begnügen, dass Barack Obama beschlossen hat, vor der US-Präsidentschaftswahl [im Irak] militärisch aktiv zu werden, obwohl er es bislang entschieden abgelehnt hat, in Syrien signifikant vorzugehen? Das geht so weit, dass wir das Entstehen von zwei recht unterschiedlichen Fronten miterleben. Die unveränderte Ablehnung der USA, sich militärisch in Syrien zu engagieren, legt den Gedanken nahe, dass ihr Plan vielmehr darin besteht, nur den Russen Kontra zu geben, als darin, das Regime in Damaskus zu stürzen. Im Irak deutet alles darauf hin, dass die Obama-Administration dringend einen gewaltigen Sieg gegen das selbstproklamierte Kalifat in Mossul braucht.“
Westen ist im Nahen Osten nicht ohne Schuld
In Syrien rächt sich heute, dass es der Westen vor drei Jahren versäumt hat, eine Flugverbotszone über Syrien zu verhängen, kritisiert das Handelsblatt:
„Jetzt ist solch ein Schritt nicht mehr möglich, da Russland die Lufthoheit über Syrien hat und erbittert verteidigen würde. ... Putin hat sich auf Augenhöhe auf der Weltbühne zurückgekämpft, er profitiert innenpolitisch von seinem Machtkampf mit den USA auf Kosten anderer, und Assad bleibt sein Garant für die einzigen russischen Militärbasen im Mittelmeer und im Mittleren Osten. Auch der Westen ist nicht ohne Schuld: Der verheerende und völkerrechtswidrige Einmarsch der USA unter George W. Bush in den Irak - von der damaligen Oppositionsführerin Angela Merkel unterstützt - legte letztlich den Grundstein für die Terrormiliz Islamischer Staat. ... Und letztlich war es ein Fehler, so lange mit Russland zu verhandeln, um eine Syrien-Lösung zu finden, bis Assad von den Rebellen und dem IS so geschwächt war, dass dies Moskau auf den Plan rief.“
Obama in der Sackgasse
Die USA sind im Nahen Osten derzeit nicht handlungsfähig, analysiert Milliyet:
„Im Irak und in Syrien geraten die Angelegenheiten immer mehr in eine Sackgasse. Vor allem, da Operationen auf Mossul und Aleppo anstehen. ... Was das Datum des Starts der Operationen angeht, steht die US-Führung unter großem Zeitdruck. Die dominierende Position ist, dass diese noch vor der Präsidentschaftswahl begonnen werden sollen. Es liegt in der Natur von Kriegen, dass sie riskant sind und Ungewissheiten bereithalten. Die erste Regel, um mit Ungewissheiten umzugehen, sind gute Führung und die Fähigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen. Doch in Wahlkampfzeiten können sich Antworten auf militärische und politische Situationen des Kriegs verzögern. Auf der anderen Seite hat Obamas Versprechen, keine Bodentruppen zu entsenden, die Entscheidungsmöglichkeiten derer begrenzt, die die Operationen planen. Mit dieser Aussage hat er auch das Ausmaß des Krieges in eine Sackgasse geführt und weitere Bündnisse verhindert.“
Konfrontationskurs gegen Russland einstellen
Nachdem der Vorschlag Frankreichs und Spaniens für eine Syrien-Resolution durch das russische Veto gescheitert ist, überlegt Hollande, ob er Putin, der nächste Woche nach Paris kommt, überhaupt empfangen soll. Le Figaro wünscht sich mehr Pragmatismus:
„Für einen Staatschef ist diese öffentliche Zurschaustellung seiner Zweifel und diplomatischen Launen eine etwas legere, ja sogar eine unangemessene Haltung. Wir kennen Hollandes Hang zum Kommentieren des Geschehens, er zieht dies präsidentiellem Eingreifen vor. Jetzt wird er also auch noch zum Kommentator seiner eigenen Unentschlossenheit! ... Die Angelegenheit blamiert Frankreich auf der internationalen Bühne und schwächt unsere Stimme in einem sehr schwierigen Konflikt, in dem wir sowieso schon Mühe haben, uns Gehör zu verschaffen. Russland als Feind zu behandeln bringt Frankreich nicht weiter im Kampf gegen den IS und für einen Regimewechsel in Damaskus. Frankreich sollte lieber auf Pragmatismus statt auf moralische Überlegungen setzen.“
Russland und USA vor offener Auseinandersetzung
Die Sitzung des UN-Sicherheitsrates war wahrscheinlich der vorletzte Schritt hin zur offenen Konfrontation zwischen den USA und Russland, befürchtet Novosti, die Zeitung der serbischen Minderheit in Kroatien:
„Im Sicherheitsrat hat sich nicht gezeigt, wie westliche Analysten behaupten, dass Russland wieder mal verhindert hat, den Bürgerkrieg zu beenden. Vielmehr wurde deutlich, dass das Ziel des Westens ist, Assad zu stürzen und 'seine' Spieler an die Macht zu bringen. Dahingegen ist die ganze Geschichte mit dem Kampf gegen den islamistischen Terrorismus nicht mehr als eben genau das: eine Geschichte. ... Washingtons Strategen wollen Russland wieder zum zweitklassigen Machtfaktor machen - nicht mehr als eine Regionalmacht, wie sich einst der amerikanische Präsident lustig machte. ... Wenn diese unglückselige Sitzung die Einleitung war, dann wird das russische Abschießen amerikanischer Kampfjets, die Aleppo angreifen, der erste donnernde Finalakkord werden.“
Imperialisten zerlegen den Nahen Osten
Der bittere Beweis für den fatalen Zustand, in dem sich die Weltpolitik befindet, ist das Scheitern der UN-Resolution für Hürriyet:
„Die Welt ist unregierbar geworden. Wenn eines der fünf Länder des Sicherheitsrats sein Veto einlegt, sind die UN gelähmt. Da die USA und Russland niemals gemeinsame Interessen haben, kommt es auch niemals zu einer Entscheidung der UN. In Syrien leben Hunderttausende Menschen im Elend. Palästina ist seit Jahren voller Schmerz. Afrika ist eine Schande für die Menschheit. Und die Welt heizt die Konflikte wieder an. Zusammengefasst: Der imperiale Hunger derjenigen, die seit Hunderten von Jahren versuchen, die internationalen Grenzen neu zu zeichnen, ist nicht gestillt. Er wird von Generation zu Generation größer.“
Gefährlicher als der Kalte Krieg
Im Vergleich mit dem Kalten Krieg hält Il Sole 24 Ore die aktuelle Konfrontation zwischen den USA und Russland für sogar noch gefährlicher:
„Die Geschichte wiederholt sich niemals komplett, sondern nur in Teilen: im Fall Putin ist an die Stelle der marxistischen Ideologie der autoritäre Populismus getreten. ... Die potentiellen Bedrohungen sind derweil die gleichen. Nur das Bewusstsein, den anderen nicht zerstören zu können, ohne selbst zerstört zu werden, verhindert die Katastrophe. Mit einer ernsthaften Verschlechterung der Lage: seit der Aussetzung des Nato-Russland-Rates 2014 fehlt ein Kanal, Missverständnissen und Unfällen vorzubeugen. Am Himmel und im Baltischen Meer waren nie so viele Kriegsschiffe und -flugzeuge wie heute. Noch gefährlicher ist die Lage in Syrien, wo Russen und Amerikaner in unmittelbarer Nähe auf demselben Schlachtfeld kämpfen. Es wäre verheerend, wenn der Populismus auch diese gefährliche politische Saison zu vereinfachen versucht.“
Russische Nostalgie treibt Welt in den Abgrund
Russland strebt nach alter Macht und Größe und schreckt dabei vor nichts zurück, zeigt sich Dnevnik besorgt:
„Die Behauptungen, dass Russland wegen der niedrigen Ölpreise verarme und seine Wirtschaftskraft in etwa der Spaniens entspreche und dass Putin darum nur bluffe, sind ein gefährlicher Irrglaube. Putin verwendet eine Taktik, die an den Islamischen Staat erinnert, dessen Haushalt kleiner ist als der von Albanien, was den IS aber nicht davon abhält, die ganze Welt in Angst und Schrecken zu versetzen. Russland steckt in der irren Vorstellung fest, dass der Mythos seiner großen Vergangenheit auch automatisch seine Zukunft definiert. Eine ähnliche Nostalgie nach verlorener Macht und Größe hat zum Zweiten Weltkrieg geführt. Auch damals hat Europa zu spät reagiert und musste einen hohen Preis zahlen - bis heute.“
Neue Sanktionen gegen Moskau verhängen
Mit Russland kann man nicht verhandeln, findet Dagens Nyheter und fordert stattdessen Sanktionen wie im Fall der Ukraine:
„Eine Reihe von Ländern von Italien bis Ungarn will die Sanktionen abschwächen oder beenden. ... Aber die Sanktionen wurden durch die Krise in der Ukraine verursacht. In dieser Hinsicht hat sich nichts geändert. Darüber hinaus kann man die russischen Kriegsverbrechen in Syrien nicht ignorieren. ... Die Schlussfolgerung lautet, dass Putins Russland kein möglicher Partner ist. Es ist ein Saboteur, mit dem man sprechen muss, der aber nie mit Zugeständnissen belohnt werden darf. Wenn überhaupt, sind die schrecklichen Gräueltaten in Syrien Grund genug für die USA und die EU, die Sanktionen zu erweitern. ... In der Ukraine war das Problem Russland. Und in Syrien wird Russland leider nicht Teil der Lösung sein.“
Obama hinterlässt einen Scherbenhaufen
Wer auch immer die US-amerikanische Präsidentenwahl gewinnt - er oder sie muss erst einmal gründlich aufräumen, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Nun stehen die USA vor einer nochmals geschrumpften Auswahl an Optionen in Syrien. Der Abbruch der Gespräche mit Russland und die bitteren gegenseitigen Schuldzuweisungen markieren einen neuen Tiefpunkt im Verhältnis zu Moskau. Wer auch immer in einem Monat die amerikanische Präsidentenwahl gewinnt - Obama überlässt ihm oder ihr einen riesigen Scherbenhaufen. Ihn aufzuräumen, bedeutet nicht nur, die Politik gegenüber Russland auf eine realistischere Grundlage zu stellen. Die nächste Administration in Washington wird auch vor der Herausforderung stehen, den Schaden an der Glaubwürdigkeit Amerikas zu reparieren.“
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