Eine neue Architektur für Europa?
EU-Kommissionspräsident Juncker will am heutigen Mittwoch seine Ideen zur Zukunft Europas vorstellen, die als Vorbereitung des EU-Gipfels Ende März dienen sollen. Vergangene Woche hatte er bereits den Vorschlag von Bundeskanzlerin Merkel eines Europas unterschiedlicher Geschwindigkeiten unterstützt. Kommentatoren sehen den Vorstoß eher kritisch.
Merkel zersetzt die EU
Warum Merkel ein Europa verschiedener Geschwindigkeiten gut in den Kram passen würde, erklärt der in Brüssel sitzende Journalist Eric Bonse in seinem Blog Lost in EUrope:
„Merkels Plan läuft auf ein deutsches Europa à la carte hinaus, in dem sie ihre Partner nach Gusto aussucht. Sogar Beschlüsse aus Brüssel zählen nur noch, wenn sie Berlin in den Kram passen. Das zeichnet sich bereits seit langem ab - ob in der Eurokrise (Merkel rief den IWF, um Brüssel zu schwächen), der Flüchtlingskrise (Merkels Alleingang) oder der (Nicht-)Antwort auf den Brexit. ... Und warum bedeutet das nun das Ende der Union, wie wir sie kennen? Ganz einfach: Da ist nichts mehr. Erst schwand der Gemeinschaftsgeist. Dann wurde das Ziel der 'immer engeren Union' aufgegeben. Und nun bricht auch noch der institutionelle Kern in Brüssel zusammen. Er wird, wenn sich Merkel durchsetzt, durch Absprachen zwischen Berlin und anderen, wechselnden Partnern ersetzt.“
Rumänien sollte sich eine Vision zulegen
Eine neue Architektur Europas wäre aus rumänischer Perspektive katastrophal, fürchtet Adevărul:
„Für Rumänien ist ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten ein wahrer Alptraum. Wir sind nicht im Schengen-Raum, wir sind nicht in der Eurozone, unser Platz wird immer nur an der Peripherie, im Außenzirkel sein. In zehn Jahren EU-Mitgliedschaft haben wir uns nur um unsere innenpolitischen Querelen gekümmert und die beiden Vorhaben verpasst. Jetzt stehen wir am Wegesrand und bemitleiden uns selbst. … Doch wenn für Rumänen ein zutiefst verbundenes Europa lebenswichtig ist, warum bereiten wir uns dann nicht auf die Diskussionen vor, die folgen werden? Wir haben vier Millionen Rumänen, die ständig oder saisonal im Ausland arbeiten. Die rumänische Wirtschaft hängt enorm vom europäischen Markt ab. … Hier keine Vision zu haben, ist in diesem entscheidenden Moment nicht akzeptabel.“
Status quo ist nicht mehr tragbar
Für ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten plädiert hingegen der ehemalige Präsident des EU-Parlaments Josep Borrell in El Periódico de Catalunya:
„Um ein Zurückdrängen durch Nationalisten zu verhindern, muss sich Europa dringend in Form konzentrischer Kreise neu ordnen. In den innersten Zirkel gehören diejenigen Eurostaaten, die bereit sind, weitere Souveränität zugunsten einer echten steuerrechtlichen, gesellschaftlichen und politischen Union abzugeben. Im zweiten Kreis wären diejenigen Länder, die sich noch nicht für eine solche politische Einheit bereit fühlen. Und ein dritter Kreis beinhaltet solche Länder, die ausschließlich an Freihandelsabkommen interessiert sind. Großbritannien wäre hier als erster, aber nicht als einziger Kandidat zu nennen. Alles sehr kompliziert? Zweifelsohne. Aber der Status quo ist nicht mehr tragbar.“
Osteuropa schon jetzt zweite Klasse
Das Europa der zwei Geschwindigkeiten existiert schon längst, wenn man die Produkte in den Supermärkten Europas vergleicht, ärgert sich wPolityce:
„Westliche Konzerne verkaufen unter derselben Marke in den ostmitteleuropäischen Ländern wesentlich schlechtere Produkte. Tschechien, Ungarn und die Slowakei haben bereits angekündigt, dass sie auf Brüssel Druck ausüben werden, damit diese Praktiken unterbunden werden. Und ein polnischer Europaabgeordneter hat sogar in dieser Angelegenheit bereits eine Anfrage an die EU-Kommission gestellt. ... Gewöhnlich behaupten die deutschen Konzerne, dass man sich damit auf den Geschmack der Kunden eingestellt hat. Die Unternehmen suggerieren damit, dass wir solche Produkte einfach mögen. Wir hätten andere Vorlieben als die Deutschen und wollten lieber einen weniger aromatischen Kaffee trinken. ... Solche Formulierungen beleidigen die Intelligenz der polnischen Konsumenten.“
Zwei Geschwindigkeiten führen zu Chaos
Eine neue europäische Architektur ist vor dem Hintergrund des bevorstehenden Brexit kaum die richtige Lösung für die EU, kritisiert Il Sole 24 Ore:
„Wer trifft die Auswahl und nach welchen Kriterien? Muss man sich um die Mitgliedschaft bewerben oder wird es eine Auslese sein, die Staaten ein- oder ausschließt? ... Derzeit steht nur eines fest: Ohne die Briten ist Europa ärmer, denn es ist nur vordergründig von Vorteil, wenn vonseiten der angelsächsischen Welt nicht ständig Widerspruch kommt. Der Brexit fördert in Wahrheit die Vorherrschaft Deutschlands und - als ob dies nicht schon genügte - schafft einen Präzedenzfall, der unter den Andersdenkenden Schule machen könnte. Einige werden sagen, dass das kein Beinbruch sei. Sei es doch das Ziel, ein Europa zu schaffen, das flexibler, zweckmäßiger, einheitlicher, harmonischer, kleiner und weniger verworren sein soll.“
Polen muss Konflikte mit EU beilegen
Merkels Vorschlag für ein Europa der zwei Geschwindigkeiten birgt gewisse Risiken für Polen, wenn das Land sich nicht beeilt, fürchtet Gazeta Wyborcza:
„Die Diskussion über die Einzelheiten der Reform beginnt wohl erst in einem halben Jahr. Polen sollte damit genug Zeit haben, um seine größten Probleme zu lösen, die es mit der EU hat. Dies würde dann die Position Warschaus bei den Gesprächen über die Zukunft der EU stärken. ... Für ein solches Europa haben sich auch die Benelux-Staaten in den gemeinsamen Vorschlägen ausgesprochen, die sie auf Malta präsentiert haben. Und Frankreich und Italien wollen dies ja schon seit langem. ... Die konkreten Arbeiten für die Reform dürften allerdings kaum vor der Wahl in Deutschland im September stattfinden. ... Das heißt, wir haben dafür noch ein halbes Jahr Zeit.“