Wie soll die EU in Zukunft aussehen?
Mit fünf möglichen Szenarien zur Zukunft der EU will Kommissionschef Juncker eine Debatte darüber anstoßen, wie die Gemeinschaft ihre Krise überwinden kann. Europas Kommentatoren diskutieren sein "Weißbuch" ausführlich. Viele sind allerdings skeptisch und fürchten, dass sein Vorstoß nach hinten losgehen könnte.
Konfuser Beitrag der Krisen-Kommission
Das Weißbuch verdeutlicht, in welcher Identitätskrise die EU-Kommission steckt, führt der Politologe Sergio Fabbrini in Il Sole 24 Ore aus:
„Das Weißbuch liefert einen bescheidenen und konfusen Beitrag zur Debatte über die Zukunft Europas. Bescheiden, weil es sich nicht ernsthaft mit den Gründen der europäischen Krise auseinandersetzt. Konfus, weil in ihm sogar fünf Szenarien für die Zukunft Europa gezeichnet werden und diese eher einem Universitätsseminar entsprungen zu sein scheinen als einer reiflichen politischen Überlegung. Deshalb sagt das Weißbuch mehr aus über die Krise, in der die Kommission selbst steckt, als über die Krise der EU. Obwohl die Kommission Juncker weiterhin als parlamentarische Regierung der EU interpretiert wird, ist sie in Wahrheit ein Organismus geworden, der sich mal parlamentarisch, mal zwischenstaatlich und immer technokratisch präsentiert. … Was ihr fehlt, ist eine politische Seele. Sie diskutiert über die Zukunft der EU, als ob letztere eine internationale Organisation wäre und behauptet, die Form folge der Funktion. Doch die Behauptung ist unverständlich und zeugt von fehlendem Demokratieverständnis.“
Tiefe Zerwürfnisse im EU-Restaurant
Mit seinen Plänen für eine Zwei-Klassen-EU geht Juncker ein gefährliches Experiment ein, warnt Sega:
„Der Übergang von EU-Integration zu EU-Desintegration ist schnell vollzogen, doch die Folgen könnten unumkehrbar sein. Wenn wir also nicht eines Tages der EU wie sie heute ist nachtrauern wollen wie Putin der UdSSR, müssen wir uns klarmachen, dass die Errungenschaften, die wir selbst zerstören, uns niemand zurückbringen kann. Einige finden, dass es im großen EU-Restaurant nicht mehr so gemütlich ist wie früher, weil es mit vielen neuen lautstarken Gästen überfüllt ist. Wenn sie uns die Tische wegnehmen, bleibt uns nichts anderes übrig als zu stehen. Als Nächstes bieten sie uns vielleicht an, zu kellnern. Jedenfalls werden sie nicht mit uns diskutieren, denn das ist ein Privileg für die auf den Sitzplätzen. Sie werden uns nur mit dem Kopf zunicken, mit den Fingern schnippen und uns zurufen, wie und wann wir sie bedienen sollen.“
Ideen für ein erwachsenes Europa
Mit dem Weißbuch ist Juncker ein strategisch kluger und wichtiger Schachzug gelungen, kommentiert El País:
„Die Kommission stellt allen die klare Frage, was Europa einmal werden will, wenn es groß ist - das heißt, ab sofort, schließlich jähren sich die Römischen Verträge diesen Monat zum 60. Mal. ... Das Weißbuch gibt den Ball zurück ins Spielfeld der Regierungen, die seit Jahren die europäischen Institutionen und insbesondere die Kommission als Sündenbock für eigene Defizite und Fehler missbrauchen. Die aktuelle EU wird dadurch - trotz ihrer Effizienz in Verwaltung und Justiz - zu einer Maschine degradiert, die Niederlagen europäisiert und Erfolge nationalisiert. Auf diese Weise mangelt es der Europapolitik am nötigen Schwung, um notwendige gemeinsame Entscheidungen durchzusetzen. Diesen Stillstand weiß die nationalistische und populistische Europafeindlichkeit zu nutzen.“
Kreativer Impuls für eine festgefahrene Debatte
Auch De Volkskrant ist von Junckers Vorstoß begeistert und sieht neuen Schwung in eine festgefahrene Debatte gebracht:
„Mit der offenen Haltung soll den Kritikern der Wind aus den Segeln genommen werden, die rufen, dass Europa Diktate auferlegt und eine ewige Integrationsmaschine ist. Diese Vorwürfe haben nichts mit der Wirklichkeit zu tun, sind aber weit verbreitet und müssen daher beantwortet werden. Außerdem kann mit dieser Methode das perverse Spiel der Regierungschefs beendet werden. Die haben die Angewohnheit, für jede unpopuläre Politik Brüssel als den Schuldigen darzustellen. Doch wenn sie künftig selbst für ein Szenario verantwortlich sind, dann wird das schwieriger. Vom ergebnisoffenen Nachdenken geht auch ein kreativer Impuls aus für die festgefahrene Debatte über die europäische Zukunft. Das ist dringend notwendig, nicht nur nach dem politischen Erdbeben des Brexit, sondern auch als Antwort auf die Rechtspopulisten, die die EU zerstören wollen.“
Juncker wiederholt Gorbatschows Fehler
Skeptisch zeigt sich hingegen Soziologe Dan Dungaciu auf dem Blog Adevărul und fürchtet, dass den EU-Kommissionschef das gleiche Schicksal ereilen könnte wie den letzten Staatschef der UdSSR:
„Als die Sowjetunion vor einer bis dato ungekannten Krise stand, dachte Michail Gorbatschow naiv, dass 'Perestroika' und 'Glasnost' ausreichen würden, den Forderungen, der tiefen Frustration und der Unzufriedenheit der sowjetischen Bevölkerung zu entgegnen. … Auch Jean-Claude Juncker will der 'Retter' sein. Er will, dass die Widersprüche zwischen Unterstützern und Kritikern der EU handhabbar bleiben. Er täuscht sich zutiefst. Die EU steht vor einer noch nie dagewesenen Krise, vor einem 'perfekten Sturm'. Juncker glaubt, dass Zugeständnisse die Unzufriedenheit der Bevölkerung des 'Alten Europas' stoppen und die Bevölkerung des 'Neuen Europas' in Schach halten können. ... Doch das, was er macht, ist in mehrerlei Hinsicht gefährlich: Nicht nur, dass er damit die europäische Krise nicht löst, mehr noch: Er riskiert wie Michail Gorbatschow im Fall der UdSSR, Öl ins Feuer zu gießen.“
Das Bürokratiemonster droht weiter zu wachsen
Auch Trud formuliert eine Warnung - nämlich die, dass ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten noch mehr Bürokratie nach sich ziehen könnte:
„Jede EU-Politik wird früher oder später von eigenen Institutionen umrankt werden, was die Bürokratie erhöhen wird. Juncker lanciert bereits die Idee eines eigenen Parlaments für die Länder der Eurozone. Man spricht auch schon von einem eigenständigen Haushalt für sie. Das dürfte zusätzliche Zerwürfnisse zwischen den EU-Institutionen bringen. Zum Beispiel bei der Frage, ob es verschiedene EU-Abgeordnete geben wird - die einen im jetzigen EU-Parlament und die anderen im Parlament der Eurozone. Oder bei der Frage, in wie viele EU-Haushalte die Mitgliedsländer werden einzahlen müssen. Wie sollen die neuen Politiken koordiniert werden? Die wichtigste Frage lautet: Wird sich die EU unter den neuen Umständen als geeinter und homogener Mechanismus erhalten können?“
Kommissionschef zieht das Tempo an
Mit seinem Weißbuch hat Juncker den Ball zu Recht den Regierungen zugespielt, findet Der Standard:
„Die Brexit-Abstimmung liegt ganze acht Monate zurück, 28 Regierungschefs haben zur Zukunft der EU seither nichts vorangebracht. ... Diese müssen endlich eine Grundsatzentscheidung treffen, wohin die Reise gehen soll. Alle Varianten - von loser Wirtschaftsgemeinschaft bis zur politischen Union - liegen auf dem Tisch. Begrüßenswert ist, dass der Kommissionschef für seine Erklärungen das EU-Parlament als Ort wählte. Die Abgeordneten als Vertreter der Völker müssen in Zukunft bei jeder Reform der Union eine Schlüsselrolle spielen. Denn eines ist offensichtlich: Für die tiefe Krise - auch demokratiepolitisch - sind vor allem die Regierungen der Mitgliedsstaaten verantwortlich. Weil im Rat der Regierungschefs zu viele übersteigerte Egos sitzen, wegen deren Unentschlossenheit und Nationalismus, geht in Europa nichts weiter.“
Aufruf, Farbe zu bekennen
Viele Beobachter hätten sich von Juncker klarere Standpunkte gewünscht und nicht nur eine grobe Skizze möglicher Szenarien, doch der Deutschlandfunk begrüßt dieses Vorgehen:
„Die Zukunft der Europäischen Idee steht auf dem Spiel, und um ihren Gedanken im Kern zu retten ist jetzt unkonventionelles Denken gefragt, keine Denkschablonen oder -verbote. … Es gilt nicht mehr, die EU gegen einen monolithischen Block wie im Kalten Krieg zu verteidigen, sondern eine Idee zu retten, indem man sie praktikabler und für die Menschen akzeptabler gestaltet. Mit einigen halbwegs offenen Szenarien voran zu gehen ist richtig, auch wenn es schon wieder Kritik daran hagelt, das Ganze sei zu schwammig und unentschieden. Eine EU-Kommission allein kann und darf nicht über den künftigen Weg Europas entscheiden. Alle sind jetzt aufgerufen, Farbe zu bekennen.“
Nicht einmal mehr Juncker verteidigt Europa
Enttäuscht von der Präsentation Junckers zeigt sich hingegen De Standaard:
„Der Führer der wichtigsten europäischen Institution verteidigt also die Idee Europa nicht länger öffentlich. Vor etwa einem Jahr wäre das noch undenkbar gewesen. Was könnte deutlicher zeigen, wie sehr die Europa-Skepsis auf dem Vormarsch ist? Junckers Präsentation soll wohl rüberkommen als ein Ausdruck von mehr Demokratie, als Hinweis darauf, dass die Mitgliedstaaten mit ihren Parlamenten, NGOs und Bürgerforen jetzt breit über die Zukunft von Europa diskutieren können. Doch man kann das Ganze auch anders sehen: Dass die Kommission 'objektiv' bleibt, ist nicht nur ein Eingeständnis der Schwäche, sondern auch ein Ausdruck von politischem Realismus. Europa wurde nicht der demokratische Ort, den viele sich erträumt hatten. ... Stattdessen melden sich diejenigen lautstark, die die Nationalstaaten wieder errichten wollen. Sie haben kein europäisches Gegengewicht.“
Osteuropa soll rausgedrängt werden
Die Agenda hinter den Plänen zur Veränderung der EU verschweigt Juncker, schimpft Politikexperte Valentin Naumescu auf dem Blog Contributors:
„Er versucht, die wahren Absichten zu vertuschen: Den Schutz und die Abgrenzung eines Clubs wahrer, zivilisierter, leistungsfähiger Europäer. Hier werden diskrete aber effiziente Grenzen gezogen - seien es politische, wirtschaftliche, gesetzgeberische oder verwaltungstechnische -, um dem angeblich schlechten Einfluss der Ostländer auf den Wohlstand der Westländer zu begegnen. Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten bedeutet das Ende der aktuellen EU und eine Fragmentierung in mindestens zwei Kategorien von Staaten. Eine De-facto-Rückkehr zum Zustand von vor 2004, als die postkommunistischen Länder als Verbündete der EU gesehen wurden und noch nicht alle vollen politischen, institutionellen Beschlussrechte hatten.“
Neue eiserne Vorhänge sind zu befürchten
Das Wohl der Bürger muss nun bei der Richtungsentscheidung zur Zukunft der EU im Zentrum stehen, mahnt Večernji list:
„Sollte bei den Mitgliedstaaten die Meinung überwiegen, dass Grenzen wieder geschlossen werden müssen, würde dies das Ende von Schengen bedeuten, das Ende der Reisefreiheit, die eines der europäischen Grundrechte ist. Wir sollten nicht vergessen, dass es die kommunistischen Systeme waren, die um jeden Preis die Bewegungsfreiheit der Menschen einschränken wollten. ... Ein Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten würde zu unterschiedlichen Rechten der Bürger führen. Vor den 27 Mitgliedstaaten stehen fünf Szenarien. Der Grundgedanke bei der Frage, welches das richtige ist, muss das Schicksal der Bürger sein. Mehr als 500 Millionen Europäer müssen alle die gleichen Rechte haben. Alles andere sind politische Ränkespiele und führen nur zur Errichtung neuer eiserner Vorhänge.“