Wie gefährlich kann Nawalny Putin werden?
Tausende protestieren auf russischen Straßen gegen Korruption, die Behörden reagieren mit Massenfestnahmen. Betroffen ist auch Kremlkritiker Alexej Nawalny, dem das Gericht vorwirft, bei der Demonstration in Moskau eine nicht genehmigte Route genommen zu haben. Nawalny hat seine Festnahme bewusst provoziert, vermuten Kommentatoren und sagen einen gesellschaftlichen Wandel in Russland voraus.
Nawalny entlarvt die Staatsmacht
Kremlkritiker Nawalny hat die russische Führung in ein Dilemma gestürzt, meint die Neue Zürcher Zeitung:
„Auf der einen Seite will man ihn nicht zum Märtyrer machen, auf der anderen Seite möchte man vermeiden, dass sich die Proteste ausweiten. ... [Nawalny] weiss um Putins Dilemma und hat am Montag seine Festnahme gezielt provoziert. Dass der Kreml einzig mit Repression zu reagieren vermag, spricht freilich Bände über die Paranoia an der Staatsspitze. Wäre Putin tatsächlich der rundum verehrte Landesvater, als den ihn die staatliche Propaganda porträtiert, so könnte er es sich problemlos leisten, eine Präsidentschaftskandidatur Nawalnys zu erlauben und das Demonstrationsrecht der Opposition vollumfänglich zu garantieren.“
Der Samen ist gesät
Auch wenn Nawalny dem russischen Präsidenten vorerst nicht gefährlich werden kann, könnte er Russland verändern, analysiert The Times:
„Solange Putin die Polizei und den Sicherheitsapparat beherrscht, solange Richter nach seiner Pfeife tanzen und er sein riesiges Netzwerk der Protektion aufrechterhalten kann, muss er nicht fürchten, von Nawalny bei der Präsidentenwahl im März nächsten Jahres gestürzt zu werden. Putin kann gegen den Regimekritiker Verfahren einleiten, diesen einschüchtern und dessen Kandidatur für ungültig erklären. Doch wenn Putin wie erwartet für eine weitere sechsjährige Amtszeit kandidiert und die Wahl gewinnt, wird er sich den Problemen widmen müssen, die sein furchtloser Gegner angesprochen hat. Nawalny sät Samen, die im Volk Zweifel am Führer im Kreml wachsen lassen.“
Putins Propaganda zieht nicht mehr
Eine Veränderung des gesellschaftlichen Klimas in Russland beobachtet Neatkarīgā:
„Langsam schwindet die in der russischen Gesellschaft von der Besetzung der Krim verursachte patriotische Euphorie und die Aureole von Putins göttlichem Heldenmut verblasst. Immer mehr Menschen verabschieden sich aus der künstlichen Parallelwelt der Telepropagandisten und kehren in die Wirklichkeit zurück, in der Russland technologisch rückständig und für den Rest der Welt unattraktiv ist. … Es besteht kein Zweifel, dass Russland auf den Weg der Zivilisation zurückkehrt. Die vielen Demonstrationen am Montag und die Reaktion der Machtbehörden zeigen, wie groß der innere Druck ist und dass wir in der nahen Zukunft Änderungen erwarten können.“
Rekordwahl in Gefahr
Für das Handelsblatt sind die Proteste Ausdruck einer systemischen Krise, in der sich Russland befindet:
„Das Problem dabei ist, dass die ersten zarten Anzeichen von Wirtschaftswachstum in Russland - nach drei Jahren Krise - noch lange nicht bei den Menschen angekommen sind, deren Lebensstandard weiter fällt. Das führt zu Frust. Die Stabilität, mit der Putin warb und wirbt, wird gerade von der jüngeren Generation oft mit Stagnation gleichgesetzt. ... Diejenigen, die sich in der Chefetage eingenistet haben, sitzen bequem, der Weg nach oben ist verstellt. … Die Demonstranten sind nicht für Nawalny auf die Straße gegangen. Es ging ihnen nicht darum, Putin gegen Nawalny auszutauschen, sondern das System zu ändern. … Das Projekt Rekordwahl gerät für den Kreml-Chef damit in ernste Gefahr.“