Macron: Wie viel Macht verträgt die Demokratie?
Komfortable Ausgangsbasis für die Partei von Präsident Emmanuel Macron: La République en Marche und ihr Partner MoDem verfügen über 350 von 577 Sitzen in der Nationalversammlung. Angesichts dessen werfen Kommentatoren die Frage auf, mit welchen Risiken diese Machtfülle verbunden ist und wer gegenüber der neuen französischen Regierung eine Kontrollfunktion einnehmen kann.
Frankreich muss keine Demokratur fürchten
La Croix sieht keinen Grund zur Besorgnis:
„Es lässt sich festhalten, dass der Senat noch nicht vom Macronismus erobert wurde und die Nationalversammlung bestimmt durch die Anwesenheit der zwei Tribunen Jean-Luc Mélenchon und Marine Le Pen elektrisiert wird. Kurzum: Frankreich ist nicht dem Risiko ausgesetzt, unter einer Demokratur zu leben wie Russland oder die Türkei, wo eine Person die Macht auf sich konzentriert und sich dabei auf die formale Einhaltung demokratischer Regeln beruft. Bei uns stehen den Minderheiten zahlreiche Instrumente zur Verfügung, um sich Gehör zu verschaffen. Dass ihnen eine klar bestätigte Regierung gegenübersteht, ist nicht von Nachteil. So ist eine wirksame Trennung zwischen der Phase des Debattierens und dem Moment des Entscheidens möglich.“
Das Volk ist die Opposition
Macrons härteste Gegner sind nicht im Parlament zu suchen, glaubt Sega:
„Im Parlament wird es keine starke Opposition geben, die eine effektive Kontrolle über die Regierung ausübt. Die wahre Opposition wird auf der Straße zu finden sein, denn die vielen Nichtwähler fühlen sich durch die Abgeordneten nicht vertreten. … So ist Macrons großer Wahlsieg gleichzeitig seine große Schwachstelle. ... Das Parlament wird kaum in der Lage sein, die Rolle als Puffer zwischen Präsident und Volk auszufüllen. Jedes Mal, wenn die Exekutive schwierige Entscheidungen treffen muss, wird es Spannungen geben, die in heftige, auf der Straße ausgetragene Konflikte münden.“
Starke Opposition gesucht
Die Berliner Zeitung fragt sich, ob die Opposition überhaupt noch ihren Auftrag erfüllen kann, die Regierung zu kontrollieren:
„Zumal die Oppositionsparteien ja nicht nur zu geschwächt, sondern auch in sich zutiefst zerstritten sind. Außerparlamentarischen Kräften tut sich damit die Chance auf, das Vakuum zu füllen, die Debatte auf die Straße zu verlagern, Radikalopposition zu betreiben. Die historisch niedrige Wahlbeteiligung vom Sonntag spielt ihnen zusätzlich in die Hände. … So widersinnig es klingt: Der Präsident, der am Sonntag triumphiert hat, wird sich im eigenen Interesse bescheiden, der parlamentarischen Opposition Raum geben, den Dialog suchen müssen. Macron ist auch dies zuzutrauen. Erste Signale an die Adresse der Opposition hat er bereits gesandt. … Ein Staatspräsident, der den politischen Gegner aufbaut - auf der Bühne der Fünften französischen Republik kündigt sich die nächste Uraufführung an.“
Die größte Hürde wartet jetzt
Macron sollte die Gunst der Stunde nutzen und rasch handeln, empfiehlt der Tages-Anzeiger:
„Der junge Präsident hat bisher einen erstaunlichen politischen Instinkt bewiesen und seit seiner Wahl am 7. Mai fast alles richtig gemacht. Seine erste wirklich grosse Herausforderung wird jedoch darin bestehen, die Arbeitsmarktreform gegen den rabiaten sozialen Widerstand durchzusetzen, der in Frankreich bei einem solchen Vorhaben unvermeidlich ist. Die absolute Mehrheit im Parlament, die La République en Marche gestern errungen hat, ist eine wichtige Voraussetzung. Macron hat auch erkannt, dass er die Gunst der Stunde nutzen und schnell handeln muss. Sollte er angesichts von Streiks und Massendemonstrationen dennoch scheitern, wäre dies eine frühe Entzauberung.“
Politikverdruss gefährdet Demokratie
In der hohen Zahl der Nichtwähler sieht Slate eine Gefahr für die Demokratie:
„In der ersten Runde der Parlamentswahl sind nur 20 Millionen Franzosen wählen gegangen, also 48,71 Prozent der Wahlberechtigten. Diesen Sonntag sah es ähnlich aus. Die in der Geschichte der Fünften Republik einzigartig niedrige Wahlbeteiligung zeigt einmal mehr, dass das System in der Krise steckt. Davon wird logischerweise Präsident Macron profitieren, denn er könnte etwa 70 Prozent der Parlamentssitze gewinnen, obwohl nur 15,7 Prozent der Wähler für ihn gestimmt haben. ... Das Problem ist, dass es keine Opposition gibt. Auch wenn unser Regime keinesfalls mit einer Diktatur verglichen werden kann, so scheint es doch, als habe es das Fundament der Demokratie beschädigt.“
Frankreichs letzte Chance?
Rzeczpospolita sieht in Macrons eindeutigem Wahlsieg eine einmalige Chance für die Franzosen, ihr Land wirtschaftlich wieder fit zu machen:
„Entgegen den Hoffnungen vieler Ökonomen bereitet er sich nicht darauf vor, den übermäßig aufgeblasenen Staat zu verschlanken. Er glaubt, dass eine Liberalisierung des Arbeitsmarktes und eine Verbesserung der Ausbildung ausreichen. ... Sicher wird Macron viel tun, um nicht ausgerechnet als der Präsident in die Geschichte einzugehen, dessen Nachfolgerin Le Pen war. Dafür ist er zu stolz. Damit dies gelingt, bedarf es einer grundlegenden Modernisierung Frankreichs. Doch seit Frankreich gegen Ende der siebziger Jahre in wirtschaftlichen Stillstand verfiel, standen die Chancen für die Franzosen nie besser, ihr Land wieder auf die Beine zu stellen. Eine weitere Chance könnte es für diese Generation nicht geben.“
Macron kann Europa wachrütteln
Macron wird Europa stärken, hofft la Repubblica:
„Nach dem Brexit wird Frankreich das einzige EU-Land sein, das eine Nuklearmacht ist und einen ständigen Sitz mit Vetorecht im UN-Sicherheitsrat hat. ... In der aktuellen Situation, in der sich die Europäer zwischen einem unzuverlässigen Putinschen Russland und einem noch unzuverlässigeren Trumpschen Amerika eingezwängt sehen, könnte der junge Macron der deutsch-französischen Achse neue Stärke verleihen - besonders wenn es ihm gelingt, Spanien und Italien einzubeziehen. Europa braucht eine neue Dynamik. In einer müden und teils verwirrten Europäischen Union, in der nur Angela Merkel wie ein positives, ausgleichendes Element erscheint, kann der neue französische Präsident eine solche Dynamik fördern. Europa kann nicht nur 'deutsch' sein.“