Brexit-Verhandlungen: EU stark, London schwach?
Knapp ein Jahr nachdem die Briten den EU-Austritt wählten, sind zwischen London und Brüssel die Brexit-Verhandlungen angelaufen. Die nach der Unterhauswahl geschwächte britische Regierung wird sich nun auf einen weltoffeneren und humaneren Brexit einlassen, glauben Kommentatoren und vertrauen auf das Verhandlungsgeschick der Unterhändler.
Brexit wird etwas liberaler
Gegner eines harten Brexit wie Schatzkanzler Philip Hammond haben durch die britische Unterhauswahl an Einfluss gewonnen, freut sich The Independent:
„Es wird vielleicht nicht möglich sein, den Brexit aufzuhalten, zu verzögern oder umzukehren. Doch das Gleichgewicht hat sich zugunsten eines Brexit verschoben, bei dem Wohlstand mehr zählt als weniger Zuwanderung. Hammond nutzte bei seiner Rede im Mansion House in London die Schwäche von Premierministerin Theresa May, die ihn feuern wollte, um die geänderten Prioritäten darzulegen. 'Wir wollen die Zuwanderung zwar steuern, doch wir wollen sie nicht stoppen', erklärte er. ... Die traditionelle Rede von Königin Elizabeth zur Eröffnung des Parlaments [am Mittwoch] markiert eine Veränderung im Machtgleichgewicht beim Brexit zugunsten einer offenen Wirtschaft und gegen Isolationismus. Das kann nur eine gute Nachricht sein.“
Bürgerrechte haben Priorität
Der gelungene Start der Brexit-Verhandlungen gibt Anlass zur Hoffnung, meint Helsingin Sanomat:
„Der EU-Chefunterhändler, der ehemalige französische EU-Kommissar Michel Barnier, hat klug auf Großtuerei verzichtet, obwohl der für den Brexit verantwortliche britische Minister David Davis in einer deutlich schwächeren Verhandlungsposition an den Verhandlungstisch gekommen war. Ein Beleg für die Kräfteverhältnisse ist, dass Großbritannien gleich zu Beginn den Wunsch aufgab, die Austrittsbedingungen parallel zu den späteren Konditionen zu verhandeln. … Es ist notwendig, zunächst die Stellung der Bürger der EU und Großbritanniens zu klären. Es geht um die Rechte von Millionen Menschen.“
Solidaritätsfonds für Brexit-Opfer
Die Regierung in Dublin und die EU müssen dringend verhindern, dass die Grenzregionen zwischen Irland und Nordirland unter dem Brexit leiden, warnt The Irish Independent und fordert einen Solidaritätsfonds:
„Es braucht eine groß angelegte Verbesserung des Straßensystems in Nordirland, um zu verhindern, dass der Landkreis Donegal und der Nordwesten der Republik Irland durch den Brexit vom Rest des Landes abgeschnitten werden. Das muss realistischerweise von der Regierung in Dublin vorangetrieben werden. Auch sollten gute Argumente für spezielle Finanzhilfen aus Brüssel vorgebracht werden. Das bringt uns direkt zur brennenden Frage eines Brexit-Fonds. Dieser sollte dazu beitragen, die schlimmen Folgen des Austritts der zweitgrößten Volkswirtschaft aus der EU zu lindern und Bürgern verschiedener Länder zugute kommen.“
Übergangsphase lindert den Bruch
Grundvoraussetzung für einen friedlichen und konstruktiven Verlauf des Brexits ist die von London geforderte längere Übergangsperiode, glaubt Il Sole 24 Ore:
„Viele Unternehmer, Kommentatoren und Berater, die den Segen des moderaten (und wiederauferstandenen) Schatzkanzlers [Philip Hammond] haben, treffen den Nagel auf den Kopf wenn sie darauf beharren, dass die Unterhändler als erstes versuchen sollten, eine Übergangsphase festzulegen, um den nach den Regeln von Artikel 50 festgelegten Austrittszeitraum zu verlängern. … Die Priorität bleibt, einen Bruch mit all seinen Konsequenzen zu verhindern. Davon profitiert in erster Linie London, doch wäre es sicherlich ein Fehler zu glauben, die längere Übergangszeit käme nicht auch den 27 (Ex-)Partnern zugute.“
Für Tories steht alles auf dem Spiel
Die Brexit-Verhandlungen beginnen zu einer Zeit totaler Verwirrung in Großbritannien, analysiert De Volkskrant.
„Premierministerin Theresa May hat nach der Wahl keinen Spielraum: Sie wird von den Brexiteers geduldet, doch sobald sie sich in Richtung eines milderen Brexit bewegt, wird es zu einem Coup kommen. Gleichzeitig muss sie auf ihren nordirischen Partner hören, der zwar auch für einen Brexit ist, aber zugleich in der Zollunion bleiben will. Das soll eine harte Grenze zwischen Nordirland und Irland verhindern. Außerdem steht May unter dem Druck, mit Labour zusammenzuarbeiten, aber die Oppositionspartei hat überhaupt keinen Standpunkt zum Brexit. ... Für die konservative Partei steht alles auf dem Spiel. Geht der Brexit schief, wird sie in den nächsten Jahren in der Opposition verdorren.“
Verläuft der Brexit im Sand?
Für Upsala Nya Tidning ist der Brexit nach der jüngsten Wahl in Großbritannien nicht mehr ausgemacht:
„Was passiert, wenn die Kräfte, die sich einem harten Austritt widersetzen, Erfolg haben? Es gibt ja ein Modell, an dem man sich orientieren kann, nämlich das norwegische. Norwegen ist nicht Mitglied der EU, hat aber weitgehende Abkommen, die dem Land Zugang zum Binnenmarkt sichern. .... Auch die Schweiz, Island und Liechtenstein sind Teil dieser größeren Wirtschaftsgemeinschaft (European Economic Area), haben aber nicht die Möglichkeiten zur Einflussnahme, die eine EU-Mitgliedschaft beinhaltet. Großbritannien könnte die EU verlassen und in der EEA oder der Zollunion bleiben. Aber dann stellt sich die Frage, warum man überhaupt austreten und seinen Einfluss aufgeben sollte. Angesichts dessen gibt es starke Argumente für ein neues Referendum - und ein solches könnte ein anderes Ergebnis haben als das erste.“
London hat es mit gestärkter EU zu tun
The Guardian hat den Eindruck, dass in Großbritannien politische und wirtschaftliche Unsicherheit regieren, während sich der Rest der EU im Aufwind befindet:
„Trotz aller Schlagzeilen, denen zufolge eine populistische Bewegung an den Grundpfeilern der EU nagt, scheint es so, als hätten die Schockwellen der vergangenen Jahre auf dem Kontinent für ein neues Zusammengehörigkeitsgefühl gesorgt und den Appetit geweckt auf bessere, wenn nicht sogar mehr Integration. ... So wie Helmut Kohl und François Mitterrand die Gelegenheiten beim Schopf packten, die ihnen die Geschichte bot, bestimmen Angela Merkel und Emmanuel Macron - unter anderen Umständen - ihren Weg in Richtung eines gemeinsamen europäischen Projekts. Nach einem Jahrzehnt der Krise könnte Europa diese nun hinter sich lassen. Es würde helfen, wenn sich Großbritannien das stärker bewusst machte, um falsche Entscheidungen zu vermeiden.“