Gelingt Merkel und Macron der Neustart der EU?
Die Erwartungen an das deutsch-französische Duo bleiben hoch: Nach dem Sommergipfel der EU erklären Europas Kommentatoren erneut, dass Merkel und Macron die Union reformieren und damit vor ihrem Zerfall bewahren könnten. Diese Hoffnung äußerten sie bereits nach Macrons Antrittsbesuch in Berlin. Nun, da die beiden Politiker in Brüssel demonstrativ als Partner auftraten, wird sie neu genährt.
Im Herbst fällt der Startschuss
Spätestens nach der Bundestagswahl dürften Merkel und Macron die Integration in der EU massiv vorantreiben, prophezeit Kauppalehti:
„In der Handelspolitik folgt die EU noch nicht der Linie Macrons, aber in Bezug auf die Pläne zur Zukunft der EU hat Macron Unterstützung von Bundeskanzlerin Angela Merkel erhalten. Bei einem Treffen vor dem Gipfel sagte Merkel, dass sie offen sei für Macrons Vorschlag, einen Eurofinanzminister und einen gemeinsamen Haushalt zu etablieren. … Meinungsumfragen zufolge hat Merkel gute Chancen, im Herbst die Bundestagswahl in Deutschland zu gewinnen. Danach sind alle Voraussetzungen erfüllt, dass die EU unter der Führung Merkels und Macrons einen Quantensprung in Richtung einer vertieften Integration vollführen kann.“
Paris darf sich Berlin nicht unterwerfen
Beim Schulterschluss mit Merkel darf Macron nicht zu viele Zugeständnisse machen, fordert Ökonom Jacques Sapir in RussEurope:
„Das heißt nicht, dass Kompromisse an sich nicht gut sind. Doch um den angestrebten Kompromiss zu erreichen, müssen zunächst einmal die Konfliktlinien deutlich und die Interessen klar abgesteckt werden. Wer den Kompromiss als Fetisch oder heilige Kuh betrachtet, der beeinträchtigt die Entschlossenheit und die Definition der Interessen Frankreichs und macht somit das Erreichen eines echten Kompromisses unmöglich. Als einzige Optionen bleiben dann nur noch die vollständige Kapitulation gegenüber Deutschland und ein chaotisches Aufbegehren, was zu einem Konflikt führen würde, der umso verheerender wäre, weil er zu lange unterdrückt wurde.“
Präsident hat in Berlin nichts erreicht
Macron ist mit leeren Händen von seinem Antrittsbesuch in Berlin zurückgekehrt, meint der Fraktionsvorsitzende des Linksblocks im portugiesischen Parlament, Pedro Filipe Soares, in Diário de Notícias:
„Macron brachte eine ganze Reihe von Versprechen mit nach Berlin - die zwar offenkundig bedenklich waren, aber dennoch die Glocken der europäischen Neugründung ertönen ließen. ... Wenn vor der Wahl noch unsicher war, wie viel Potential Macrons Vorschläge für eine EU-Reform haben, ist diese Angelegenheit nach seiner Reise nach Berlin geklärt. Bundesfinanzminister Schäuble hatte schon vor dem Besuch klargestellt, dass Deutschland keinen Deut von seinen Plänen für die EU und besonders für den Euroraum abweichen würde. Das Nein von Angela Merkel war höflich und diplomatisch, aber deswegen nicht weniger standhaft. Das Ergebnis? Die Tasche, in der Macron seine Vorschläge mitgenommen hatte, ist leer in den Elysée-Palast zurückgekehrt.“
Osteuropa nicht aus dem Auge verlieren
Deutschland und Frankreich sind in Zukunft an noch engerer Kooperation interessiert, prophezeit Postimees:
„Nach dem ersten Besuch von Macron in Berlin wird immer lauter von der Wiedergeburt der deutsch-französischen Achse gesprochen. Zusätzlich zeigen die Wahlergebnisse, dass Angela Merkel gute Aussichten auf eine Wiederwahl im Herbst hat. Für die Achse sind das gute Nachrichten. ... Deutschland ist allerdings nicht daran interessiert, Mauern an seiner Ostgrenze zu errichten: Auch wenn die deutsch-französische Achse wichtig ist, unterstützt Berlin weiterhin die enge Kooperation mit den Visegrád-Staaten. Daher hat Berlin nicht übermäßig auf die Entwicklungen in Polen reagiert. Wie die deutsch-französische Achse gestärkt werden kann, um die Europäische Union zu erneuern und dabei die anderen EU-Länder ruhig zu halten, das ist die Millionen-Dollar-Frage für Macron und Merkel.“
Begeisterung trifft auf Erfahrung
Sydsvenskan zeigt sich nach dem ersten Treffen der beiden Politiker hoffnungsfroh:
„Der neugewählte französische Präsident Emmanuel Macron traf Montag eine alles andere als frische Bundeskanzlerin Angela Merkel. Oder anders gesagt: Ein nicht in der Praxis erprobtes politisches Supertalent, 39, traf auf Europas erfahrenste und angesehenste Regierungschefin, 62. ... Die persönliche Chemie zwischen beiden schien zu stimmen. Dennoch sind es zwei sehr unterschiedliche politische Persönlichkeiten, die die wichtigsten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union führen. Während Merkel für Kontinuität, Sicherheit und Stabilität steht, wurde Macron für sein Versprechen des Wandels und eines radikalen Bruchs mit dem Alten gewählt. ... Historisch betrachtet ist es die deutsch-französische Achse, die Europa sowohl vorantreibt als auch zusammenhält. Wenn es gut läuft, ist die Kombination aus Merkels Erfahrung und Macrons Begeisterung genau das, was die Zusammenarbeit in der EU jetzt braucht.“
Neuer Schwung für Europa
Auch der Tages-Anzeiger glaubt, dass Frankreich und Deutschland nun das Potential haben, Europa neuen Schwung zu verleihen:
„Merkozy beziehungsweise Merkollande sind Geschichte. Macron will jedenfalls nicht zu einem weiteren Anhängsel von Merkel werden. Frankreichs neuer Präsident kennt allerdings auch die Ängste der Deutschen, immer nur Zahlmeister sein zu müssen. Nicht umsonst verspricht er die Reformen, die Frankreich wirtschaftlich wieder stark und zu einem ernsthaften Partner machen sollen. Der Blick zurück zeigt, dass die Trendwende möglich ist. Noch vor etwas mehr als zehn Jahren galt Frankreich in der EU als Vorbild, und Deutschland war wirtschaftliches Schlusslicht. Doch auch in Berlin wird man sich bewegen müssen, weg vom dogmatischen Sparkurs etwa und hin zu Investitionen, um das gefährliche Ungleichgewicht in der Eurozone zu reduzieren. Dies wird Macron im Gegenzug zu seinen Reformen zu Hause selbstbewusst einfordern. Die Chancen, dass der deutsch-französische Motor neuen Schub bekommt, stehen jedenfalls so gut wie noch nie.“
Frankreichs Präsident in der Zwickmühle
Skeptischer zeigt sich Ilta-Sanomat und prophezeit, dass Macron ein wahrer Balanceakt bevorsteht:
„Er unterstützt ein föderales Europa, was beispielsweise Transferleistungen und einen Ausgleich der Wirtschaftszyklen bedeuten würde. Solche Gedanken finden in Deutschland keine Sympathie. … Wenn Macron möchte, dass seine Wähler zufrieden bleiben, muss er einige seiner Wahlversprechen einlösen. Falls er zudem noch einige Le Pen Wähler gewinnen will, kann er die derzeitige EU-Politik nicht fortsetzen, denn dies würde den Eindruck verstärken, dass die EU-Elite den Ton angibt. Die Deutschen wiederum haben Macron schon Tipps für eine rigide Wirtschaftspolitik gegeben. … Macron kann leicht in die Situation geraten, in der er entweder einen Teil seines Volks zufriedenstellt oder die Deutschen. Beiden zu genügen kann sehr schwierig werden.“
Starke Achse Berlin-Paris schlecht für London
Financial Times schließlich hält fest, dass ein geeintes Vorgehen von Deutschland und Frankreich es für Großbritannien deutlich schwieriger macht, seine Interessen gegenüber der EU durchzusetzen:
„Es wäre natürlich kein Zeichen guter Nachbarschaft, das klar auszusprechen, doch in dem Moment, als Großbritannien beschloss, die EU zu verlassen, gewann es ein strategisches Interesse an einer Lähmung wenn nicht sogar an einem Zusammenbruch der Europäischen Union. Auf diese Weise würde das Land von seinem ewigen Dilemma befreit werden: Wie soll man mit einer riesigen benachbarten Handelszone umgehen, an deren Regeln man sich halten muss, obwohl man diese nicht mitbestimmen kann? Die Wiederherstellung von Europas wichtigstem zwischenstaatlichen Verhältnis macht einen Zusammenbruch der EU nicht nur unwahrscheinlicher. Sie schafft zudem die gefürchtete Aussicht auf eine EU, die nach dem Austritt Großbritanniens von einem stärkeren Zusammenhalt gekennzeichnet ist.“