Was kann Berlin gegen das AKP-Regime ausrichten?
Als Reaktion auf die Verhaftung von Menschenrechtsaktivisten in der Türkei setzt die Bundesregierung auf eine "Neuausrichtung" der Beziehungen zu Ankara. Die Reisehinweise wurden verschärft, Kredite, Investitionen und die Rüstungszusammenarbeit sollen überdacht werden.
Deutschland schadet sich selbst
Am Ende wird Deutschland die Zeche zahlen, meint Daily Sabah:
„Historisch gesehen waren qualitative „Made in Germany" Produkte immer die erste Wahl der Türkei. Wenn jedoch der wirtschaftliche Druck erfolgreich ist, werden Länder wie die USA, Russland, China, Korea und viele andere EU-Länder sehr glücklich sein, das Geschäft für sich zu gewinnen. Auch wenn es nicht die gleiche Qualität ist, wird es nicht schwer sein, die Bedürfnisse des Landes zu erfüllen. Wollen die Minister wirklich den profitablen türkischen Markt verlieren? Was für eine Erklärung werden diejenigen den deutschen Unternehmen und ihren Mitarbeitern in der Türkei geben, die Feindseligkeit gegenüber der Türkei provoziert haben, nur um Stimmen für sich zu gewinnen? ... Letzten Endes schaden diejenigen, die die Krise zwischen den beiden Verbündeten vertiefen, vor allem Deutschland selbst.“
Eine gefährliche Machtdemonstration
Populistisches Kalkül führt dazu, dass das deutsch-türkische Verhältnis dauerhaft Schaden nimmt, warnt The Economist:
„Selbst wenn Deutschland und die Türkei ihren Streit eindämmen können, scheinen neue Meinungsverschiedenheiten unvermeidlich. Erdoğan hat es sich zur Gewohnheit gemacht, vor Wahlen die anti-westliche Stimmung aufzupeitschen. Europäische Politiker beginnen dies zu erwidern, denn sie haben festgestellt, dass harte Worte zur Türkei bei den Wählern beliebt sind. Bei der Wahl im März taten dies viele niederländische Politiker. Mit der sich im September nähernden Bundestagswahl werden sicherlich auch viele deutsche Politiker diese Taktik wiederholen. Der türkische Präsident hat ein gefährliches Spiel begonnen.“
Deutschland will die Türkei ausgrenzen
Für die regierungstreue Tageszeitung Yeni Şafak waren die deutsch-türkischen Beziehungen noch nie so schlecht wie heute. Schuld daran sei eindeutig Deutschland, das
„die Beziehungen zur Türkei endgültig verschlechtern will. Sie bereiten den Boden für ein Embargo à la Katar gegen die Türkei vor. Darauf weist die Betonung wirtschaftlicher Sanktionen hin. Mit der Definition eines 'unsicheren Lands' sollen deutsche Touristen in der Türkei verängstigt werden. Mit dem Zurückziehen von staatlichen Garantien sollen deutsche Investitionen gestoppt werden. Die Mainstream-Politik in Deutschland hat den Wunsch, die Türkei auszugrenzen.“
Abhängigkeiten verhindern Eskalation
De Volkskrant hingegen glaubt, dass sich der Streit zwischen Berlin und Ankara nicht weiter verschärfen wird und erläutert auch, warum:
„Deutschland hat derzeit viele Gründe, um vorläufig nicht härter gegen die Türkei vorzugehen. So will man nicht, dass sich die drei Millionen Türken entfremden, die in Deutschland wohnen. Auch könnte eine weitere Verschlechterung der bilateralen Beziehungen negative Folgen für die neun Deutschen haben, die aus politischen Gründen in der Türkei festgenommen wurden. ... Und dann ist da noch der Flüchtlingsdeal, der eine funktionierende Beziehung mit Ankara erfordert. ... Deutschland und die Türkei sind in einem Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten gefangen. Diese Tatsache wird weiter Anlass für Frustrationen sein. Doch es ist auch eine Versicherung gegen schnelle Eskalation.“
Empfindlicher Treffer gegen Ankara
Es war allerhöchste Zeit für die Maßnahmen gegen die Türkei, findet Der Standard:
„So groß aber sind mittlerweile Verblendung und Hybris, vielleicht auch die Furcht, doch einmal die Kontrolle über Land und Wähler zu verlieren, dass die Verantwortlichen in Ankara offenbar ohne große Überlegung in die Konfrontation mit Deutschland hineingesteuert sind. Sie verweisen zwar auf die Unabhängigkeit ihrer Justiz. Doch die Rechtsprechung in der Türkei widerlegt sie, die zusammengestoppelten Anklageschriften, die faktische Kontrolle, die der Präsidentenpalast und der Justizminister über den Gang der Gerichte ausüben. Die Konsequenzen der in Berlin angekündigten 'Neuausrichtung' der Beziehungen werden erheblich sein. Reisewarnungen und Investitionsstopp treffen die Türkei. Andere in der EU werden den Deutschen folgen.“
Heiße Luft im Wahlkampf
Die Neue Zürcher Zeitung vermutet hinter der scharfen Kritik von Außenminister Sigmar Gabriel in Richtung Ankara Wahlkampfmotive:
„Der amtierende SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist verzweifelt auf der Suche nach Themen, mit denen er die anscheinend so sicher im Sattel sitzende Kanzlerin Angela Merkel herausfordern könnte. Da kam er in den letzten Tagen auf die Idee, Merkels angeblich viel zu zahme Türkei-Politik zu kritisieren, obschon diese seit fast acht Jahren von SPD-Außenministern vertreten wird. ... Was am Ende dabei herauskam, spiegelt die Realitäten des schwierigen Verhältnisses zur Türkei mehr als die Ansprüche des Wahlkämpfers Schulz. Zwar erhielt Gabriel viel Beifall für seinen markigen Auftritt. Doch bei genauem Hinsehen war da nichts dabei, das die bilateralen Beziehungen zwischen den beiden Ländern unmittelbar verändern würde.“
Die Tür darf nicht zugeknallt werden
Wer drastische Sanktionen fordert, darf die Risiken und Nebenwirkungen nicht verschweigen, mahnt die taz:
„So schlimm die Lage ist: Es kann auch noch schlimmer kommen. Stichwort Todesstrafe. Einfach mal ausprobieren, was nach einem kompletten Bruch mit Ankara passiert, wäre fahrlässig - mit Blick auf die Gefangenen, aber auch mit Blick auf die deutschtürkische Community. Es ist ein schmaler Grat. Gabriel und Merkel müssen ... Erdoğan deutlich machen, dass seine Menschenrechtsverletzungen Konsequenzen für ihn haben - und gleichzeitig immer auch Rückwege zur Zusammenarbeit offen halten. Die Tür zuzuknallen wäre genauso verantwortungslos, wie tatenlos zuzuschauen.“
Selbst der Döner schmeckt nicht mehr
Eine Entfremdung zwischen Türken und Deutschen beobachtet Milliyet:
„Es sieht so aus, als würden sich die Spannungen in der Führungsriege auf der Straße widerspiegeln. Während die Regierungen sich fast täglich gegenseitig Ultimaten stellen, sticht die Distanziertheit zwischen den Völkern mehr als zuvor ins Auge. Zum Beispiel gehen selbst die Dönerverkäufe zurück. Während die Deutschen früher für den Urlaub die Türkei präferierten, denken sie jetzt gar nicht erst daran, dorthin zu fliegen. ... Es wäre wünschenswert, dass das Eis zwischen beiden Ländern vollkommen schmilzt und wir unsere Schnelligkeit und ihre Qualitätsansprüche kombinieren, um viel größere gemeinsame Projekte zu verwirklichen. Es sieht so aus, als hätten beide Länder das dringend nötig.“