Ungarn will EuGH-Urteil ignorieren
Ungarn und die Slowakei sind vor dem EuGH mit ihrer Klage gegen die Verteilungsquote für Geflüchtete gescheitert, die 2015 von den EU-Staaten beschlossen worden war. Bratislava will das Urteil akzeptieren, ungarische Politiker kündigten Widerstand an. Was bedeutet das Urteil für die Flüchtlingspolitik und den Umgang mit Ungarn?
Zeit für die "nukleare Option"
Die EU muss gegen Ungarn jetzt ein Verfahren nach Artikel 7 des EU-Vertrags einleiten, fordert die Süddeutsche Zeitung, auch wenn die nötige Einstimmigkeit an Polen wohl zunächst scheitern würde:
„Bei Sanktionen der EU gegen Ungarn stimmt Polen dagegen, bei Sanktionen der EU gegen Polen stimmt Ungarn dagegen. Dieses Trutzbündnis kann dadurch ausgehebelt werden, dass die Rechtsstaats-Verletzungsverfahren gegen Ungarn und Polen gleichzeitig und parallel betrieben werden [weil dann beide kein Vetorecht mehr haben]. In Polen ist die Aushöhlung der Gewaltenteilung ja noch weiter fortgeschritten als in Ungarn. Im EU-Rechtsjargon wird es 'nukleare Option' genannt, wenn man gegen Polen und Ungarn gleichzeitig vorgeht. Das klingt hochgefährlich, das klingt wie ein Atomschlag - ist aber ganz anders gemeint: Es geht um die Verteidigung des Nukleus, des europäischen Kerns.“
Westeuropa verteilt seine Sünden auf alle
Die Ex-Kolonialmächte Westeuropas verdonnern nun die gesamte EU dazu, ihre einstigen Verbrechen wiedergutzumachen, meint das regierungstreue Blatt Magyar Idők:
„Der Westen Europas hat einst ein riesiges Kolonialreich geschaffen. Großbritannien, Frankreich, Spanien, Holland, Belgien und auch Italien hatten allesamt Kolonien. Diese Länder haben die Kulturen und Zivilisationen in ihren Kolonien erbarmungslos zerstört, die Einheimischen massakriert, die Schätze, Rohstoffe und Werte weggekarrt und die verbliebenen Eingeborenen als Sklaven gehalten. ... Dieses Kolonialreich ist nun zu seinen einstigen Sklavenhaltern aufgebrochen, um ihnen die Rechnung zu präsentieren. Was aber am Schändlichsten ist: Der Westen hat nun entschieden, seinen eigenen Schmutz und seine Sünden auf die gesamte EU gleichmäßig zu verteilen. Das ist widerrechtlich und niederträchtig.“
Urteil hat Konsequenzen auch für Prag
Das Urteil wird auch die tschechische Politik beeinflussen, erinnert der öffentlich-rechtliche Hörfunksender Český rozhlas:
„Jetzt steht einer Klage gegen Tschechien, Polen und Ungarn vor dem Europäischen Gerichtshof wegen Nichterfüllung der Aufnahmequoten nichts mehr im Wege. Das wird bei uns kurz vor der Wahl [im Oktober 2017] die antieuropäische Stimmung anheizen. In den betroffenen Ländern ist den Reaktionen auf das Urteil zufolge kein Umdenken zu erwarten. ... Das Gericht in Luxemburg hat auch bestätigt, dass die EU-Innenminister mit qualifizierter Mehrheit über die Quoten entscheiden durften. Seit letztem Jahr liegt ein Kommissionsvorschlag über feste Quoten auf dem Tisch der Mitgliedsländer. Wenn es hierüber zu einer Kampfabstimmung kommt, kann man sich das Ergebnis für Tschechien leicht ausmalen.“
EuGH-Entscheidung ist kein echter Erfolg
Die Verfechter der Verteilungsquoten sollten sich angesichts des EuGH-Urteils nicht zu sehr freuen, meint Le Quotidien:
„Das Urteil der EU-Richter kommt nämlich einem Pyrrhussieg gleich. Es wurde weniger als drei Wochen vor Ablauf der vor zwei Jahren festgelegten Frist für die Verteilung von 160.000 Flüchtlingen gesprochen. Und bislang wurden erst 28.000 Personen von Griechenland und Italien in andere EU-Staaten übergesiedelt. Lächerlich angesichts der Aufnahmebereitschaft, mit der die 500 Millionen Europäer die Kriegsflüchtlinge hätten empfangen müssen.“
Nun kann sich niemand mehr wegducken
Mit dem Urteil wird die Idee der fairen Verteilung nun rechtlich untermauert, freut sich tagesschau.de:
„Es ist unerträglich, dass nur einige wenige EU-Länder wie zum Beispiel Schweden und Deutschland den größten Teil aller Flüchtlinge aufgenommen haben und andere Länder sich aus innenpolitischen Gründen wegducken. Nun muss etwas passieren: Ungarn und die Slowakei müssen das Urteil umsetzen. Das gilt auch für die Totalverweigerer aus Polen und Tschechien. Das höchste Europäische Gericht macht es ganz klar, dass alle EU-Länder dem Verteilungsschlüssel entsprechend Flüchtlinge bei sich aufnehmen müssen. Da gibt es einigen Nachholbedarf - und zwar nicht nur in Osteuropa. Auch viele andere europäische Länder haben ihre Aufnahmequoten noch längst nicht erfüllt. Das muss sich nach diesem Urteil jetzt endlich ändern!“
Europa baut an einem Luftschloss
Das Beharren auf der illusionären Verteilung von Flüchtlingen wird die EU langfristig paralysieren, meint Publizist Gellért Rajcsányi in Mandiner:
„Die Migranten wollen vor allem nach Westeuropa gelangen, besonders nach Deutschland und Schweden. Es ist kaum vorstellbar, dass sie in irgendeiner heruntergekommenen Stadt im Osten Bulgariens, im tiefsten Rumänien oder im rückständigen Nordosten Ungarns bleiben wollen. Wie will die EU vor diesem Hintergrund aber verhindern, dass es innerhalb der Union keine illegalen Flüchtlingsströme geben wird? ... Womit wir es in Sachen Flüchtlingsquote zu tun haben, ist ein ideologisches Luftschloss, dessen Mauern jede Nacht einstürzen, um am nächsten Tag aufs Neue errichtet zu werden. Dieses Herumirren wird Europa leider langfristig lähmen.“
Bratislavas Reaktion ist vernünftig
Die Regierung der Slowakei will das Urteil akzeptieren, was Pravda richtig findet:
„Die Behauptungen unserer Politiker, dass ein paar hundert Muslime unsere gesamte Gesellschaft verändern könnten, die unerträgliche Europhobie nach jedem terroristischen Angriff in Europa und die Versuche, aus der Angst der Leute politisches Kapital zu schlagen, sind Dinge, die wir zuhause regeln müssen. Aus der Sicht der EU gehören wir dennoch nicht zu den schlimmsten Verweigerern. Auch deshalb ist es wichtig, dass unsere politische Führung - anders als die in Ungarn, wo man schon zu toben beginnt - auf böse Reaktionen verzichtet. … Im Grunde will niemand mehr die Spannungen neu verschärfen.“
Einheit der Visegrád-Staaten bröckelt
Die Reaktionen beider Länder auf das Urteil machen den Unterschied zwischen Ungarn und der Slowakei deutlich, analysiert Dnevnik:
„Die Slowakei zeigt mehr Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit und ist nicht so radikal wie Ungarn. Gegen Ungarn hat die EU-Kommission denn auch ein Verfahren wegen mangelnder Solidarität mit Italien und Griechenland (und den Flüchtlingen) eingeleitet, gegen die Slowakei (noch) nicht. Die Einheit der Visegrád Staaten ist seit dem gestrigen Urteil zusätzlich angeschlagen. Die Slowakei und Tschechien setzen auf einen Sieg Angela Merkels, Ungarn und Polen sind weiterhin gegen das liberale Zentrum Europas und kehren zurück in die Vergangenheit.“
Osteuropa fühlt sich abgekoppelt
Die Gewinner des Verfahrens sollten ihren Triumph jetzt nicht auskosten, meint Die Presse und verweist auf den verletzten Stolz osteuropäischer Staaten:
„Ein wichtiger Teil der EU fühlt sich abgekoppelt. Das hängt zum einen mit der Wohlstandsverteilung zusammen, zum anderen mit einer durchaus vorhandenen Arroganz des Westens. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker etwa hat diese Länder kaum besucht, trifft Angela Merkel aber bei jeder Gelegenheit. Bis auf Donald Tusk als Ratspräsidenten gibt es heute keinen nennenswerten Spitzenposten, der von einem Osteuropäer in der EU bekleidet wird. Wenn sich dann in Lebensmittelpackungen, die in Richtung Osten geliefert werden, auch noch weniger gefrorener Fisch befindet als in den Verpackungen im Westen, braucht niemand mehr auf Solidaritätsopfer dieser Länder hoffen.“