Woher rührt Kataloniens Separatismus?
Kataloniens Separatisten setzen auf nationale Emotionen, deklarieren sich selbst gleichzeitig aber als proeuropäisch - was manche Beobachter als widersprüchlich empfinden. Europas Presse diskutiert jenseits vom tagesaktuellen Geschehen die Frage, wodurch das Unabhängigkeitsstreben der katalanischen Separatisten motiviert sein könnte.
Endlich das Europa der Regionen verwirklichen!
Griechenlands ehemaliger Finanzminister Yanis Varoufakis erkennt in Krytyka Polityczna die Ursachen für Separatismus in der Fehlkonstruktion der EU und schlägt Lösungen vor:
„Anstatt die lokale und regionale demokratische Governance zu behindern, sollte die EU sie fördern. Die EU-Verträge könnten geändert werden, um das Recht regionaler Regierungen und Städteparlamente auf fiskalische Autonomie festzulegen. ... Besteht die Forderung nach Staatlichkeit und Trennung von dem international anerkannten Staat weiterhin, könnte die EU einen Verhaltenskodex für die Abspaltung ins Leben rufen. ... Der neue Staat seinerseits sollte verpflichtet werden, zumindest das gleiche Ausmaß an Fiskaltransfers wie zuvor aufrechtzuerhalten. Die reiche Region Venetien beispielsweise könnte sich von Italien abspalten, solange sie ihren Fiskaltransfers in den Süden weiterhin nachkommt.“
Warum eine Währungsunion Separatismus befördert
Die Katalonien-Krise ist ein weiterer Beleg dafür, dass Währungsunionen häufig auf einem Irrglauben basieren, erläutert Ökonom Jean-Pierre Petit in Le Monde:
„Diese Krise veranschaulicht einmal mehr die Naivität des Projekts einer Währungsunion, die politisch als Mittel zur automatischen Förderung wirtschaftlicher Konvergenz präsentiert wird. US-Ökonom Paul Krugman (Nobelpreisträger von 2008) weist jedoch seit 1993 zu Recht darauf hin, dass die Bildung einer Währungsunion die Tendenz verstärken kann, dass sich Regionen entsprechend ihrer vorhandenen Wettbewerbsvorteile spezialisieren. Man spricht dann von Agglomerationseffekten. Trotz jahrzehntelangem Einsatz von Strukturfonds stellen die regionalen Ungleichheiten weiterhin eine der größten Herausforderungen für die europäische Währungsunion dar.“
Zersplitterung Europas wie im Mittelalter
Europas Feinde setzen nun auf den Separatismus, analysiert Journalist Ion Ionita auf dem Blogportal der Tageszeitung Adevărul:
„Der größte Markt der Welt, die am weitesten entwickelte Wirtschaft, das beste Sozialsystem, all das waren bislang Attribute der EU. Die Neugründung der EU, die Frankreich und Deutschland anstreben, aber auch Spanien und Italien - die vier größten Staaten der Union, wenn Großbritannien die Gemeinschaft verlassen hat - , könnte aus Europa eine Supermacht im wahrsten Sinne des Wortes machen. Zur wirtschaftlichen und diplomatischen Kraft, die Europa bereits hat, könnte eine noch effizientere Führung hinzukommen und eine gemeinsame europäische Armee. All das ist nicht gewünscht. Die Feinde Europas haben eine neue Front gefunden: die Separatistenbewegung. Die Zersplitterung Europas wie im Mittelalter ist ihr Endziel.“
Nicht mit baltischen Staaten vergleichbar
Katalonien darf man nicht mit dem Kosovo oder den baltischen Staaten vergleichen, betont der britische Journalist Edward Lucas in seinem Kommentar für die Nachrichtenagentur BNS:
„Die Völker, die in den demokratischen Rechtsstaaten nach der Unabhängigkeit streben, würden gerne die romantische Rhetorik dieser Völker nutzen, die sich aus der wahren Unterdrückung zu befreien versuchten. Aber so ein Recht haben sie eigentlich nicht. Über was auch immer Katalonien sich beschwert, es ist nicht von Spanien okkupiert, anders als im Fall Estlands, Lettlands und Litauens, die unter der sowjetischen Besatzung gelitten haben.“
Jedem sein eigenes Fürstentum
Separatismus ist absurd, erklärt Schriftsteller Gabriel Matzneff in Le Point:
„Wir fliegen auf den Mond und bald auf den Mars, wir reisen so problemlos nach Manila oder Kuba wie unsere Großeltern nach Versailles oder Fontainebleau. Unsere gute alte Erde ist klein geworden, wie Kapitän Haddock aus Tim und Struppi sagen würde. Deswegen ist der Enthusiasmus für die Unabhängigkeit, die Rückkehr zum Bürgerkrieg zwischen den Armagnacs und den Bourguignons [wie Anfang des 15. Jahrhunderts], so absurd. Es ist aber auch gerade diese Absurdität, die uns fasziniert. ... Ich persönlich träume davon, ein Fürstentum zu kreieren, das einen Teil der Rive Gauche umspannt. Um genau zu sein, das 5., 6. und die besten Teile des 7. Arrondissements, die Straßen, die vom Boulevard Saint Germain abzweigen. ... Ein Hoch auf die Unabhängigkeit des Quartier Latin!“
Die Nation ist der Kern unserer Identität
Das Beispiel Katalonien untermauert eindringlich, dass die nationale Identität noch immer der wichtigste Verknüpfungspunkt innerhalb einer Gesellschaft ist, reflektiert Publizist László Köntös auf dem Meinungsportal Reposzt:
„Obwohl Handels-, Wirtschafts- und Finanznetzwerke den gesamten Globus überziehen und es in vielen Regionen der Welt länderübergreifende Vereinigungsbestrebungen gibt, ist die Zugehörigkeit zur eigenen Gruppe immer noch die Grundlage der Identität und das stärkste Band zwischen den Menschen. Diese Gruppenidentität manifestiert sich heute in der Nation. Und selbst wenn wir wissen, dass das nationale Bewusstsein ein Produkt der Geschichte ist und rein gar nichts mit 'Blut' und 'Rasse' zu tun hat, ist es der Menschheit bisher dennoch nicht gelungen, die Nation als höchsten Identitätsrahmen zu überwinden. Was wir heute in Katalonien beobachten können, ist mithin ein Kampf der nationalen Identitäten.“