Was kann die MeToo-Kampagne bewegen?
Tausende Frauen haben in sozialen Netzwerken unter dem Hashtag MeToo ihre Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt geschildert. Sie reagierten damit auf das Bekanntwerden von Vorwürfen gegen Hollywood-Produzent Harvey Weinstein, der jahrzehntelang Schauspielerinnen belästigt und vergewaltigt haben soll. Der Kampf gegen Übergriffe muss von allen Teilen der Gesellschaft geführt werden, fordern Kommentatoren.
Debatte allein reicht nicht
Im Kampf gegen sexuelle Belästigung sind konkrete Maßnahmen gefordert, betont Suomenmaa:
„Die durch die MeToo-Kampagne initiierte Debatte ist nötig. Bleibt zu hoffen, dass sie dazu führt, dass mehr Personen als bisher ihr Verhalten überdenken und Umstehende dazu ermutigt werden, bei unangemessenem Verhalten einzuschreiten. Eine Kultur der Belästigung wird von ganz gewöhnlichen Männern und Frauen geschaffen und aufrechterhalten. Über einen Einstellungswandel hinaus werden konkrete Maßnahmen zur Beseitigung von Belästigung am Arbeitsplatz, in Schulen und Verbänden benötigt. Das deutliche Ansprechen von Belästigungen, eine von der Führung rückhaltlos unterstützte Null-Toleranz-Linie und vorab aufgestellte Pläne zum Eingreifen bei Belästigungen beugen ungewünschtem Verhalten vor.“
Bei aller Empörung einen kühlen Kopf bewahren
Journalistin Ann-Charlotte Marteus warnt in Expressen davor, die Kampagne aus dem Ruder laufen zu lassen:
„MeToo ist in vielerlei Hinsicht eine phantastische Kampagne. Aber wenn sich alle einig sind, dass sie für eine edle Sache kämpfen, wenn alle in die gleiche Richtung marschieren, beseelt von der gleichen rechtschaffenen Euphorie, dann befällt mich Klaustrophobie. Und Unruhe. Solche Bewegungen können kopflos werden und den Sinn für Proportionen verlieren. ... NotMe, bekomme ich plötzlich Lust zu rufen.“
Wer schweigt, stimmt zu
Im estnischen Rundfunk wirft Kolumnist Rain Kooli angesichts der Skandale um sexuelle Belästigung die Frage nach einer kollektiven Schuld von Männern auf:
„Ich glaube nicht an kollektive Schuld, wohl aber an kollektive Verantwortung. Wir Männer müssen uns nicht wegen der Taten anderer Männer schuldig fühlen. Aber wir tragen Verantwortung dafür, ob die Belästigung anhält oder nicht. Nicht nur durch das eigene Verhalten. Wenn wir auf jegliche Belästigung nicht anders als mit peinlicher Stille reagieren, schaffen wir Voraussetzungen für weitere Fälle.“
Internet-Aktivismus reicht nicht
Der Kampagne gegen sexualisierte Gewalt sollte nun Nachhaltigkeit verliehen werden, fordert Krónika:
„Eines ist klar: Die virtuellen Kampagnen werden früher oder später abebben. Indes sollte das Ausrufezeichen weiterhin im öffentlichen Gedächtnis bleiben: Abseits des Hashtags sind konkretere Schritte gefordert, um dem Phänomen Einhalt zu gebieten. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass unzählige Täter und Opfer gar nicht in den sozialen Medien präsent sind. Zwar reichen die Tentakel des Internets heutzutage fast überall hin. Allerdings sollte die Botschaft von MeToo unbedingt auch jene Menschen erreichen, die nicht Teil der virtuellen Welt sind. Denn die potenziellen Täter sind unter uns: Sie scharwenzeln im Bus um uns herum, auf dem Schulflur, in den Parks, im Theater und in der Kneipe, bereit, uns jederzeit zu bedrängen.“
Sexuelle Belästigung bleibt ein Tabu-Thema
Die Gesellschaft ist leider noch nicht bereit, sich mit sexueller Belästigung am Arbeitsplatz auseinanderzusetzen, meint Merle Albrant, Anwältin eines Frauenzentrums, in Eesti Päevaleht:
„Öffentlich über sexuelle Belästigung reden hilft, neuen Fällen, Leiden und Ängsten vorzubeugen. Es hilft den Unternehmen, Fachleute zu behalten, die sonst wegen Belästigung kündigen würden. Doch sind wir als Gesellschaft dazu bereit? Anscheinend sind wir noch nicht in der Lage, einen adäquaten Dialog über sexuelle Belästigung zu führen. Es reicht schon, die Reaktionen auf die Belästigungsfälle in den Medien zu lesen. Folgende Fragen müssen wir zuerst stellen: Braucht eine belästigte Frau Hilfe und wie könnten wir helfen? Leider passiert so etwas nur in einzelnen Fällen. Meist wird versucht, die Belästigung anzuzweifeln. Anschließend beurteilt man vor allem das Verhalten des Opfers.“
Linke ist unfassbar teilnahmslos
Frankreichs Linke hat bislang kaum auf die MeToo-Kampagne reagiert. Ihrer Enttäuschung und Besorgnis darüber machen die Feministinnen Caroline De Haas und Anna Melin in Mediapart Luft:
„Es ist schade, dass die bedeutendsten linken Bewegungen und Persönlichkeiten es nicht für nötig befunden haben, sich zu äußern. Was ist los? Haben die Organisationen und Politiker das Ausmaß des Problems überhaupt begriffen? … Auf jeden Fall weckt das Schweigen nach sieben Tagen [Hashtag-Flut zu sexueller Gewalt] Besorgnis hinsichtlich ihrer Fähigkeit, uns zu verteidigen, uns zu repräsentieren und ganz einfach an unserer Seite zu kämpfen. Von diesen Verantwortungsträgern und Organisationen würde man doch erwarten, dass sie eingestehen, bislang nicht genug getan zu haben. Dass sie Maßnahmen vorschlagen, um der chauvinistischen Gewalt ein Ende zu setzen - in der Gesellschaft sowie in den eigenen Reihen.“
Grapschen ist kein Kompliment
Dass Männer ihrerseits unter dem Hashtag MeToo ihr Sorge ausdrücken, ihre Annäherungsversuche könnten nun falsch verstanden werden, kann Gazeta Wyborcza nicht nachvollziehen:
„Sie befürchten, dass überempfindliche Feministinnen das Flirten töten und zitieren Varianten des Bonmot von Woody Allen: 'Jeder Mann, der einer Frau zuzwinkert, wird jetzt Angst vor den Anwälten haben.' Erstens ist es wohl besser, wenn ein Mann sich vor Anwälten fürchtet als eine Frau vor einer Vergewaltigung. Zweitens ist ein Zwinkern nicht gleich ein Zwinkern. Wenn dir ein Herr in einem Geschäft zuzwinkert, kannst du ihm sagen, dass du das nicht möchtest, wenn dein Chef dir zuzwinkert, ist es schwieriger. Drittens sind vulgäre Anmachen kein Flirt und Po-Grapschen kein Kompliment. Und viertens: Wenn eine Frau Minirock trägt, heißt das ganz sicher nicht, dass man sie ohne ihr Einverständnis anfassen darf.“
Darüber reden verhindert Machtmissbrauch
Warum es lobenswert ist, dass die Frauen mutig ihre Erfahrungen preisgeben, erklärt Helsingin Sanomat:
„Es ist kein unschuldiger Scherz, normale Machokultur oder harmloses Streicheln, wenn der oder die andere das nicht will. Die Grenze zu ziehen ist nicht immer einfach, was es für das Opfer oft schwierig macht. … Letztendlich geht es um Macht. Belästigung geschieht häufig aus dem Schutz einer Machtstellung heraus, die die Rolle des Vorgesetzten, wirtschaftliche Abhängigkeit oder physische Stärke bietet. Schweigen fördert den Machtmissbrauch. Deshalb muss jetzt darüber geredet und das Problem angegangen werden.“
Hohler Hashtag-Feminimus spaltet nur
Die Kampagne in den sozialen Netzwerken wird Männer und Frauen gegeneinander aufbringen, fürchtet Kolumnistin Zoe Strimpel in The Daily Telegraph:
„Dieser Bewegung fehlt die intellektuelle Stimmigkeit, die unsere feministischen Vormütter in den 1970er- und 1980er-Jahren auszeichnete. Sie ist besessen von den Themen Sex und Objektivierung, anstatt sich mit anderen Formen der Diskriminierung zu befassen. Und sie ist nicht imstande, jene Argumente vorzubringen, die jene umstimmen könnten, bei denen das am dringendsten nötig wäre. ... Keine noch so große Zahl von spalterischen Hashtags kann das jemals erreichen. Damit werden nur bittere Phrasen bestätigt und tiefer verwurzelt, die Männer und Frauen gegeneinander aufbringen - in einer Form, die rückschrittlich, aber nicht wirkungsvoll ist.“
Komplimente wird Mann ja wohl noch machen dürfen
Der Fall Weinstein zeigt, dass die Frauenbewegung in den USA mächtiger ist denn je, schreibt die in Los Angeles lebende Kolumnistin Irina Asiowa in 24 Chasa:
„Die Frauen in den USA haben die Männer mittlerweile so fest an den Eiern gepackt, dass man nur noch ein jämmerliches Winseln vernimmt, was im Fall von Weinstein ganz recht ist. Männer wie er haben es verdient, dass sie öffentlich geächtet und ihre Karrieren und Familien zerstört werden. Während die amerikanischen Frauen jubeln, entgeht ihnen aber eine klitzekleine Kleinigkeit: Die Männer sollten durchaus kontrolliert, nicht aber kastriert werden. … Ich möchte in einer Gesellschaft leben, in der meine Rechte als Frau geschützt sind, es sollte aber nicht so weit gehen, dass die Männer sich nicht mehr trauen, mir ein Kompliment zu machen.“
Weinstein ist allgegenwärtig
Der wahre Skandal ist, wie weit das System sexueller Ausbeutung verbreitet ist, findet Die Welt:
„Glaubt irgendjemand, das System sei auf Hollywood beschränkt? In Schulen und Universitäten, Firmen und Verwaltungen, Kirchen und Medien, in Amerika und Europa, im Sozialismus und im Kapitalismus, in demokratischen und autoritären Systemen: mächtige Männer glauben immer noch, von Frauen eine Aufgabe ihrer Menschenwürde als Lohn für Gefälligkeiten verlangen zu können. Dass manche Frauen glauben, den Deal eingehen zu können, ohne eine Beschädigung zu erleiden, ist in der Regel eine ihrer Unerfahrenheit geschuldete Selbsttäuschung. Vielleicht wurden sie schon beschädigt; vielleicht war ihre Selbstachtung ohnehin nicht sehr hoch.“