Zähe Sondierungsgespräche in Berlin
In Deutschland loten Konservative, Liberale und Grüne seit Wochen eine mögliche gemeinsame Regierungskoalition aus. Zentrale Konfliktpunkte sind unter anderem der Klimaschutz und die Migrationspolitik. Doch manche Journalisten rücken auch die europapolitischen Aspekte der Sondierungen in den Blickpunkt.
Zu wenig Fokus auf Europa
Ausgerechnet die Europapolitik spielt in den Jamaika-Sondierungen nur eine Nebenrolle, stellt Zeit Online fest und gibt dabei auch der Kanzlerin die Schuld:
„Die offene Auseinandersetzung liegt ihr genauso wenig wie die Begründung eines größeren Vorhabens, auf das Macron sie nun verpflichten will. Lieber bleibt sie in der Deckung und agiert im Halbschatten der Verhandlungstische. Das mag geschickt sein, bleibt aber nicht ohne Folgen: Merkels unausgesprochene Europapolitik verstärkt den ohnehin verbreiteten Eindruck, die Politik der EU sei eine Blackbox - schwer zu fassen und noch schwerer zu durchschauen. Nur wenn die europäische Politik fassbarer wird, kann das Vertrauen in die Union wachsen. Hierfür ist Merkel nicht alleine verantwortlich, aber an führender Stelle. Der zurückliegende Wahlkampf und die bisherigen Sondierungsgespräche waren in dieser Hinsicht eine verpasste Chance.“
Wenig christlicher Ansatz beim Familiennachzug
Mit einem zentralen Streitpunkt der Gespräche beschäftigt sich der frühere SPD- und heutige AKP-Politiker Ozan Ceyhun in Daily Sabah:
„Es geht bei diesen Verhandlungen um Menschen. Die Flüchtlinge in Deutschland können aufgrund des andauernden Bürgerkriegs für eine lange Zeit nicht in ihre Heimat zurück. Das ist der Grund, warum sie in Deutschland bleiben dürfen. Nichtsdestotrotz bleibt die Zustimmung zum Familiennachzug für Flüchtlinge tabu für eine Partei, die das Wort 'christlich' in ihrem Namen trägt und religiöse Werte betont - ganz zu schweigen von europäischen Werten. ... Nicht nur die EU, sondern der gesamte Kontinent steht vor einer gewaltigen Herausforderung in Bezug auf die Flüchtlinge. ... Wir werden sehen, ob sich die Grünen trotz der CSU beim Thema Familiennachzug durchsetzen können. Wir hoffen es.“
Merkels Machtverlust trübt Macrons Hoffnungen
Die zähen Verhandlungen in Deutschland bezeugen Merkels Machtverlust, der für Frankreichs Präsidenten Macron nicht unbedingt gut ist, analysiert L'Opinion:
„Einerseits erlaubt ihm ihre schwindende Macht, die Führung in Europa anzustreben. … Andererseits rückt damit auch die Aussicht in die Ferne, dass die Kanzlerin sowohl ihrer eigenen Truppe als auch den Koalitionspartnern die ehrgeizigen französischen Pläne für die Eurozone aufzwingt. So sollen grundlegende Reformen auf die Zeit nach der Europawahl im Mai oder Juni 2019 verschoben werden - in der Hoffnung, dass dabei die Karten ausreichend neu gemischt werden und die Bildung einer neuen EU-Kommission ermöglichen, die effizienter ist als die von Jean-Claude Juncker.“
Der Verdruss der Wähler wächst
Dass die Gespräche zur Bildung einer neuen Regierung so schleppend verlaufen, kommt bei der Öffentlichkeit nicht gut an, führt Lidové noviny aus:
„Wann immer es scheint, dass man sich in einem Punkt angenähert hat, kommt sofort ein Dementi, verbunden mit der Wiederholung von alten Standpunkten aus dem Wahlkampf. Dabei haben die Gespräche bislang lediglich Sondierungscharakter. Auch nach drei Wochen intensiver Verhandlungen haben die vier Parteien bei keinem der Schlüsselthemen Fortschritte erzielt - weder bei der Migrationspolitik, noch beim Klimaschutz, noch bei den Steuern. Das schlägt der Öffentlichkeit zunehmend auf den Magen. 52 Prozent halten laut einer ARD-Umfrage eine so breite Regierung nicht mehr für gut. Gleichzeitig fällt die Beliebtheit der CDU Angela Merkels. Zuletzt auf 30 Prozent, den niedrigsten Wert seit sechs Jahren.“
Scheitern der Gespräche wäre fatal
Der Tagesspiegel zieht eine nüchterne Bilanz des bisherigen Verlaufs der Sondierungsgespräche:
„Die vier Parteien scheinen in einer Blase gefangen zu sein, die sie abschließt von der Wirklichkeit. In der wird erwartet, dass sie sich, verdammt noch mal, einigen. Aber nicht auf Kleckerkram, indem ein Spiegelstrich nach dem anderen abgearbeitet wird, nur das Ganze dann keinen Sinn ergibt, sondern darauf, wie sie Europa konsolidieren, die Wirtschaft reformieren, Integration fördern und die Gesellschaft erneuern wollen. ... Und was, wenn sie nicht zusammenkämen? Besser, das passiert nicht. Denn wenn fünf von sieben Parteien nicht miteinander regieren können oder wollen, würden das die Republik, wie wir sie kennen, implodieren lassen. ... Die Folgen ihres Scheiterns wären nicht nur ein Mehr an Populismus, sondern an Extremismus. Nach dem Motto: Die können es nicht mehr, da muss was anderes her.“
Schmerzliche Kompromisse sind alternativlos
Warum es außer Frage steht, dass die jetzigen Koalitionsverhandlungen erfolgreich abgeschlossen werden, analysiert die Tageszeitung Népszava:
„In Deutschland wären Neuwahlen kein Novum. Allerdings ist es unwahrscheinlich, dass dieses schlimmste Szenario eintreffen wird, weil aus vorgezogenen Wahlen laut Umfragen praktisch nur die radikale AfD Nutzen ziehen würde. Mithin ist ein Kompromiss bei den gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen alternativlos. So haben die Grünen schon angedeutet, dass sie in der Klimapolitik zu Zugeständnissen bereit sind, die FDP hat auch durchblicken lassen, dass sie an ihren Zielen in der Steuerpolitik nicht starr festhalten wird. Und auch die CSU wird von ihrer strikten Haltung in der Migrationspolitik wohl abrücken, dürften doch Neuwahlen das Aus der jetzigen CSU-Führung bedeuten. Aus diesem Grund ist eine Jamaika-Koalition so gut wie sicher.“