Aus für Jamaika - und jetzt?
Drei Szenarien scheinen nach dem Aus für Jamaika möglich: eine Minderheitsregierung, Neuwahlen oder eine Neuauflage der Großen Koalition. Nachdem sie sich lange weigerten, eine Große Koalition überhaupt in Betracht zu ziehen, zeigen sich einige Mitglieder der SPD-Spitze nun zu Gesprächen bereit. Einige Kommentatoren finden das in Deutschland ungewohnte Modell einer Minderheitsregierung jedoch attraktiver.
In Zukunft ohne Merkel und Schulz?
Eine Neuauflage der GroKo könnte zwei deutsche Spitzenpolitiker das Amt kosten, mutmaßt die Berlin-Korrespondentin Tonia Mastrobuoni von La Repubblica:
„Das Problem der SPD ist nicht nur das Schreckgespenst einer Neuwahl, sondern vor allem ihr Parteichef, der seit Sonntag einen Fehler nach dem anderen begeht. … In den Chefetagen der SPD werden immer mehr kritische Stimmen laut und das zeigt, dass Schulz es versäumt hat, sich beizeiten den Rückhalt der Parteispitze zu sichern. … Und auch an Angela Merkels Stuhl wird gesägt. Es ist kein Geheimnis, dass ein Teil der SPD das Ja zu einer Koalition von der Bedingung abhängig machen will, dass diese nicht von Merkel geführt wird. ... So ein Szenario hat CDU-Vize Armin Laschet zwar am Donnerstagmorgen kategorisch ausgeschlossen. Doch dass er es überhaupt erwähnen musste, ist schon ein mehr als offenkundiges Zeichen für die Schwäche der Kanzlerin.“
Verzweifeltes Hoffen auf die SPD
Dass die CDU jetzt an die Verantwortung der SPD appelliert, wundert die Neue Zürcher Zeitung überhaupt nicht:
„Vor allem bei der CDU steckt hinter den staatspolitischen Appellen ein so banales wie nachvollziehbares Interesse. Es geht um den Machterhalt. ... Wenn die CDU und die in Mithaftung genommene CSU in ein paar Monaten erneut mit der Kanzlerkandidatin Merkel antreten müssten, dann droht beiden ein Debakel. Mit Christian Lindners FDP gibt es für diese Wähler nun eine echte Alternative. Das hat der junge Parteichef mit seinem mutigen und völlig richtigen Nein zu Jamaica bewiesen. Nur deshalb soll die SPD jetzt weiterregieren. Es geht nicht ums Land. Es geht um die zittrig gewordene CDU-Führung.“
Schluss mit der Wellnessdemokratie
Eine Minderheitsregierung würde Deutschland guttun, glaubt Der Standard, denn mit ihr würde der politische Wettstreit um Inhalte wieder in den Vordergrund rücken:
„Dass Merkel selbst lieber Neuwahlen möchte, verwundert nicht. Sie mochte ihre große Koalition, sie mag den Konsens, weniger gern stellt sie sich Auseinandersetzungen. Wer Chef einer Minderheitsregierung ist, kann eine derartige Wellnessdemokratie natürlich nicht buchen. Der begibt sich vielmehr in ein hartes Bundestagscamp, und der muss für jede Entscheidung einen oder mehrere Partner suchen. Da braucht man in seinem Marschgepäck Argumente, Wettstreit, inhaltliche Auseinandersetzung. Genau davon hat Deutschland in den vergangenen vier Jahren 'GroKo' zu wenig gehabt. Es gibt Nachholbedarf.“
Visionslose Führung richtet großen Schaden an
Eine weitere Amtszeit von Angela Merkel ist das Letzte, was Deutschland jetzt braucht, warnt Kolumnist Roger Boyes in The Times:
„Die Kanzlerin hat sich in den vergangenen zwölf Jahren davor gedrückt, wichtige Entscheidungen zu treffen - hinsichtlich Deutschlands Rolle in der Welt und hinsichtlich dringend nötiger Reformen. Jetzt bezahlt das Land den Preis dafür. ... Die zerstörerische Wirkung einer Führung ohne Kompass hat sich in den vergangenen Wochen deutlich gezeigt. Weder die FDP noch die SPD trauen Merkel als Partnerin. ... Zu viele Probleme wurden in Merkels Amtszeit entweder ignoriert oder falsch angegangen. Als Meisterin der Schadensbegrenzung muss sie nun erkennen, dass sie selbst schwer beschädigt ist.“
Opposition ist für SPD auch kein Allheilmittel
Nach dem Scheitern der Jamaika-Sondierungen steckt die SPD in einem echten Dilemma, erklärt der Tages-Anzeiger:
„Jede erneute Grosse Koalition - auch eine heimliche als Reservemehrheit einer Merkelschen Minderheitsregierung - brächte für die SPD enorme politische Risiken mit sich. Ihre neu gewonnene Glaubwürdigkeit wäre erschüttert, ihr Stolz von neuem verletzt. Bei der Verweigerung zu bleiben, wäre aber auf längere Sicht vielleicht nicht weniger gefährlich. In der Opposition hat sich die SPD in der Vergangenheit jedenfalls nicht besser erneuert als in der Regierung. Wenn aber Regierung und Opposition, frei nach Franz Müntefering, gleichermassen Mist sind, warum braucht es dann die Partei überhaupt noch?“
Minderheitsregierung als gelebte Demokratie
Die taz kann sich durchaus für die Bildung einer Minderheitsregierung erwärmen:
„Eine Minderheitsregierung hätte nicht nur den Charme, dass vorerst Neuwahlen vermieden würden. Es wäre auch gelebte Demokratie. Ohne das starre Korsett einer Koalition würde deutlicher, wo die Parteien thematische Schnittmengen haben – und wo nicht. So würde endlich sichtbar, dass die Union aus CDU und CSU besteht. Anders gesagt: Die CSU könnte ihre Lieblingsprojekte begraben. Die Abschaffung des Soli würde es wohl genauso wenig geben wie eine erweiterte Mütterrente. Ein politischer Idealzustand ist die Minderheitenregierung nicht, denn wichtige Zukunftsprojekte könnten liegen bleiben, weil spontan dort gewurstelt wird, wo gerade Mehrheiten in Sicht sind. Aber sie ist eine attraktive Alternative.“
Warum die Wirtschaft unbeeindruckt bleibt
Bemerkenswert aus Sicht der Tageszeitung Die Presse ist, dass die politische Hängepartie in Deutschland die Finanzmärkte kalt lässt:
„Ist es wirklich völlig egal, ob die EU-Führungsmacht Deutschland eine funktionierende Regierung hat oder nicht? Das wohl nicht. Aber es hat sich am Wochenende gezeigt, dass die deutsche Wirtschaft derzeit wirklich erstaunlich robust ist. Und dass man in den Chefetagen von Industrie und Banken die Lage erstaunlich nüchtern beurteilt. Diese Beurteilung ergibt: Eine Koalition aus vier Parteien, die das ideologische Spektrum von weit rechts bis relativ weit links abdeckt, wäre mit zu vielen Fragezeichen behaftet. Und wenn die Wirtschaft etwas nicht schätzt, dann ist das Unsicherheit.“
Die Grundrechenarten gelten auch in der Politik
Das Dilemma bei der Bildung einer neuen deutschen Bundesregierung hängt auch mit schlichter Mathematik zusammen, erinnert Pravda:
„Man klagt jetzt darüber, dass Deutschland noch nie eine solche Situation erlebt hat. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Deutschland noch nie Rechtsextreme in seinem Parlament erlebt hat. Hier liegt das ganze Problem. Die 12,6 Prozent der Stimmen, respektive 94 Mandate im Bundestag, die die AfD errungen hat, fehlen der Union und der FDP, um eine Koalition bilden und bequem regieren zu können. Das lässt die einfache Mathematik nicht zu. Wohin man auch schaut, Extremisten bekommen überall eine Sperrminorität, die es gestandenen Parteien deutlich erschwert, eine stabile Regierung zu bilden. Bestenfalls entstehen große Rechts-Links-Koalitionen …. Im schlimmsten Fall kommt es zu einem politischen Patt.“
Die Schwedisierung Deutschlands
Deutschland als zwar dröges, aber stabilitätsverheißendes Vorbild für Schweden? Das war einmal, erklärt Svenska Dagbladet:
„Als das schwedische Parteiensystem von nationalkonservativen Kräften langsam aber sicher zerfressen wurde, hielten die Deutschen an ihrer Merkel fest. ... Auf Deutschland war Verlass: Dort weiß man, wie man ein Land führt. ... Nun, eine Million Migranten, eine wachsende einwanderungskritische Partei und eine Regierungskrise später, fühlt sich Deutschland plötzlich sehr schwedisch an. ... Der Traum, wonach Schweden reifer werden und sich Deutschland annähern würde, scheint eine Illusion zu bleiben. Nun wird Deutschland immer mehr wie Schweden, mit tiefen Schatten über der Politik und einer wachsenden Parallelgesellschaft auf der Straße.“
Raus aus der Schmollecke
Für die Tageszeitung Bild ist die SPD nun eindeutig am Zug:
„Die einst ruhmreiche Volkspartei (drei Bundeskanzler, drei Regierungsbeteiligungen) könnte nach dem Jamaika-Aus zeigen, dass sie aus anderem Holz geschnitzt ist als die Zauderer auf dem Winke-winke-Balkon. Dass sie, wie immer, wenn es in der Geschichte der Bundesrepublik darauf ankam, für Regierungsverantwortung bereit steht. ... Möglicher Lohn für die Partei: Sie könnte ihre Verhandlungsposition gegenüber der geschwächten Bundeskanzlerin nutzen und wesentliche Teile ihres Parteiprogramms doch noch umsetzen. ... Rätselhaft ist auch, was die SPD sich eigentlich von der Neuwahl verspricht: … Aus der Schmollecke heraus hat noch keine Partei eine Bundestagswahl gewonnen. Die Wähler belohnen keine Drückeberger.“
Forderungen stellen, nicht kneifen
Auch Der Standard glaubt, dass die SPD einer neuen Großen Koalition nunmehr unter ganz anderen Vorzeichen beitreten würde:
„Die Wählerinnen und Wähler haben ja gesprochen. Vielleicht nicht so besonders deutlich, wie es sich manche(r) gewünscht hätte, aber es gibt ein Votum. Man kann also Steinmeier nur ermuntern, als Bundespräsident seiner ehemaligen sozialdemokratischen Partei ordentlich auf die Zehen zu steigen. ... Offenbar erkennen die Sozialdemokraten nicht, dass seit der Bundestagswahl sehr viel Wasser die Spree hinuntergeflossen ist. Merkel ist nicht mehr groß und mächtig, die SPD nicht mehr die Juniorpartnerin, die froh sein müsste, überhaupt am Kabinettstisch sitzen zu dürfen. Selbstbewusste Sozialdemokraten könnten jetzt ganz anders auftreten und Forderungen stellen. Einen Versuch sollte es schon wert sein.“
Neue GroKo wäre für SPD fatal
Financial Times hingegen empfiehlt der SPD, auf Neuwahlen zu setzen:
„Die SPD wäre verrückt, dem Druck, sich an einer Regierung zu beteiligen, nachzugeben. Das würde nur eine noch größere Zahl ihrer Wähler in die Arme radikaler Parteien treiben. ... Die Sozialdemokraten sind geschwächt, doch sie könnten unter einer neuen Führung wieder an Beliebtheit gewinnen. Im Falle von Neuwahlen könnte Martin Schulz zu Gunsten der neuen Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, Andrea Nahles, oder der Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, abtreten. ... Sollte die SPD bei Neuwahlen ihren Wähleranteil vergrößern und die CDU/CSU an Zustimmung verlieren, könnten die beiden Parteien vielleicht eine Koalition zweier gleich starker Partner bilden.“
Anfang vom Ende der Ära Merkel
Die Position der Kanzlerin ist nachhaltig erschüttert, meint Dagens Nyheter:
„Wenn Deutschland Neuwahlen abhält, dann möglicherweise ohne sie in der Hauptrolle. Nach der Wahl vor zwei Monaten, bei der die CDU das schlechteste Ergebnis seit sechs Jahrzehnten einfuhr, ist ihre Autorität intern und extern geschwächt. ... Seit Langem schon taucht der Kosename Mutti in der Debatte höchstens noch sarkastisch auf. Nur wenige glauben, dass Merkel die gespaltene CDU durch einen weiteren Wahlkampf führen kann und will. ... Fragt sich nur, wer in der Partei das Ruder übernehmen soll. Aufgrund der Tatsache, dass kein selbstverständlicher Nachfolger für Merkel bereitsteht, sind in beiden Unionsparteien erbitterte Kämpfe um die Führung zu erwarten. ... Diese dramatische Nacht könnte der Anfang vom Ende der Ära Merkel sein.“
Minderheitsregierung wäre jetzt das Beste
Zeit Online liebäugelt mit einer anderen Lösung als Neuwahlen:
„Eine Minderheitsregierung hätte … keine Erfolgsgarantie, aber sie wäre auch nicht von Vorneherein zum Scheitern verurteilt. Jedenfalls nicht zwingend mehr, als es eine Jamaika-Koalition gewesen wäre. Im Ausland und bei den EU-Partnern würde man eine solche Berliner Regierung, die von der Opposition abhinge, sicher zunächst mit Misstrauen beäugen und fragen, welche Macht der Kanzler oder die Kanzlerin in ... dieser Konstellation noch hätte. Aber Parteien können sich Wahlergebnisse nicht aussuchen. Sie müssen damit umgehen und versuchen, das Beste daraus zu machen. Ob Jamaika unter den obwaltenden Umständen das Beste gewesen wäre, wird man nie herausfinden. Der Verlauf der Sondierungen spricht eher dagegen.“
Am Ende profitiert die AfD
Das Scheitern der Sondierung ist für La Stampa kein Grund zur Freude:
„Nur die Schadenfrohen werden sich über die Nachricht freuen. Allen anderen hingegen, die glauben, dass ein stabiles Deutschland eine Stütze für Europa ist, bleibt die Hoffnung, dass man in Berlin noch zu einem positiven Ergebnis kommt und dass die Deutschen, trotz aller Kompromisse, nicht das Vertrauen in die Politik verlieren. ... Ein Kurzschluss wäre jetzt ein großes Geschenk für die antisystemische Kraft, die schon auf der Lauer liegt: die neopopulistische, rechtsextreme Partei Alternative für Deutschland (AfD), die bereits auf 92 von 709 Abgeordneten im neuen Bundestag zählen kann.“
Notdürftige Kompromisse reichen eben nicht
Über ideologische Gräben hinweg lässt sich keine zukunftsorientierte Politik machen, analysiert der Kurier das Scheitern der Gespräche:
„Zuwanderung und Energiewende: Wochenlang haben Deutschlands Regierungsverhandler sich nun über diesen zwei Themen zerfleischt. Und wenn man einen Schritt zurücktritt und sich die politischen Grundhaltungen der involvierten Parteien ansieht, weiß man, dass da zwischen der rechtsliberalen FDP und den linksökologischen Grünen und einer obendrein in diesen Fragen gespaltenen Union nicht mehr als ein notdürftiger Kompromiss herauskommen kann.“