Erdoğan düpiert Athen mit Grenzfrage
Beim ersten Besuch eines türkischen Präsidenten in Griechenland seit 65 Jahren hat Erdoğan mit dem Vorschlag irritiert, den Vertrag von Lausanne zu "aktualisieren". Das 1923 geschlossene Abkommen schreibt die Grenzen zwischen beiden Staaten und ihre Beziehungen zueinander fest. Seitdem gehört der westliche Teil Thrakiens zu Griechenland, wo rund 120.000 muslimische Nachfahren der Osmanen leben. Was bezweckt Erdoğan?
Alles nur ein Ablenkungsmanöver?
Erstaunt darüber, dass der türkische Präsident sich nicht zu Trumps Anerkennung Jerusalems als israelische Hauptstadt geäußert hat, zeigt sich Hürriyet Daily News:
„Stattdessen entschied er, sich auf Lausanne zu konzentrieren, was zeigt, wie meisterhaft er es beherrscht, die Tagesordnung zu ändern. Vielleicht wollte er auf diese Weise ein gewisses Maß an Kontrolle über den möglichen Ausbruch von Anti-US-Protesten bewahren und unerwünschte Folgen vermeiden. Gleichzeitig traf er die Griechen unvorbereitet und in einer für sie unvorhersehbaren Weise, hatten sie sich doch auf Migrations- und Handelsfragen konzentrieren wollen.“
Türkei lässt nicht von Gebietsansprüchen ab
Hinter Erdoğans Äußerungen verbergen sich große Pläne, meint Naftemporiki:
„Sein Interesse an der muslimischen Minderheit [in Thrakien] basiert auf langfristigen Planungen für diese Region, bei denen die kemalistischen und die neo-osmanischen Territorialbestrebungen übereinstimmen. ... Indem er von einem [von den Muslimen in Thrakien zu wählenden] Großmufti spricht, bezieht er sich auf eine Institution des Osmanischen Reiches, und das im 21. Jahrhundert! ... Es scheint, dass Erdoğan beabsichtigt, als Führer und Vater der Muslime aufzutreten. ... Dass er immer wieder beharrlich über Thrakien spricht, verstärkt die Vermutung, dass die Türkei in erster Linie eine Ausweitung ihres Einflusses anstrebt, und zweitens, wenn die Bedingungen es zulassen, auch die Ausweitung ihres Herrschaftsbereichs.“
Der alte Polterer bleibt sich treu
In den besonders wichtigen Fragen gibt es zwischen der türkischen und der griechischen Regierung kaum Fortschritte, resümiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Erdoğans Visite bei seinem 'Freund' Tsipras [kann] nicht darüber hinwegtäuschen, wie wenig Fortschritte in der Aussenpolitik erzielt wurden. Weder in der Zypernfrage noch im Streit um die Hoheitsgebiete in der Ägäis ist man sich nähergekommen. Das Wettrüsten zwischen den 'befreundeten Feinden' ist in vollem Gang. Auch auf die Auslieferung mutmasslicher Putschistensoldaten wird Erdoğan wohl erfolglos pochen. ... Zum Schluss wäre Erdoğan nicht Erdoğan, wenn er nicht vor dem Besuch in einem Interview erneut die Revision des Vertrages von Lausanne eingefordert hätte, mit dem Athen und Ankara 1923 ihre Grenzen besiegelten. Hier blieb sich der alte Polterer wieder ganz treu. “
Athen ist Erdoğans Draht zur EU
Erdoğan hatte aber auch eine versöhnliche Botschaft im Gepäck, hebt die Süddeutsche Zeitung hervor:
„Ja, es gibt Differenzen, aber die wollen wir nicht eskalieren. Vor allem aber ließ er so etwas wie eine Entschuldigung für historisches Unrecht anklingen - ein echtes Zugeständnis und ein Zeichen, dass er an guten oder wenigstens stabilen Beziehungen mit den griechischen Nachbarn sehr interessiert ist. Also versucht sich Erdoğan an einem Balanceakt. Einerseits muss er Stärke zeigen, um die Nationalisten in der Heimat zu befriedigen. Zugleich reicht er Alexis Tsipras, dem griechischen Premier, in einigen besonders heiklen Punkten die Hand. Ankara hat sich zuletzt mit etlichen traditionell engen Partnern zerstritten... Da kann es nicht schaden, Konflikte mit dem nächsten Nachbarn abzubauen - und auf diese Art einen diplomatischen Kanal in die EU offen zu halten.“
Türkei kann Griechenland aus der Krise holen
Erdoğans Besuch birgt für das schuldengeplagte Griechenland große Chancen, glaubt Milliyet:
„Griechenland kann die Krise nicht überwinden, indem es die von Deutschland und dem IWF patentierte Sparpolitik umsetzt und in der Eurozone bleibt. ... Deshalb sollten die Beziehungen zwischen der Türkei und Griechenland heute unter einem ganz neuen Blickwinkel gesehen werden. Projekte wie die Fährdienste von Izmir nach Thessaloniki, der Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecke von Istanbul nach Thessaloniki oder der Brückenbau [über den Grenzfluss Evros] zu den Zolltoren Kipi und Ipsala, die mit dem Besuch von Staatspräsident Erdoğan auf die Tagesordnung kommen, sind ein guter Anfang. ... Die aktuellen Probleme Griechenlands sind das Problem aller süd- und osteuropäischen Länder, und der erste Schritt zur Lösung dieser Probleme ist die Zusammenarbeit mit der Türkei.“
Präsident profiliert sich als Vater aller Türken
Für den türkischen Präsidenten ist die Reise eine ideale Gelegenheit zur Imagepflege, analysiert der griechische Autor Apostolos Doxiadis in Libération:
„Erdoğan ist der Einzige, der hoffen kann, aus diesem Besuch Profit zu schlagen - obgleich der positive Effekt nicht über die türkischen Landesgrenzen hinausreichen wird. … Bei seinem für Freitag geplanten Besuch in der griechischen Region Thrakien will der türkische Präsident sich an die dortige türkischsprachige muslimische Minderheit wenden. Der Besuch wird ihm dazu dienen, das Bild zu stärken, das er am liebsten von sich verbreitet: das des 'Vaters aller Türken'. Obwohl er im Westen immer stärker isoliert ist und sein Autoritarismus von den europäischen Staatschefs verurteilt wird, bietet ihm diese Griechenlandreise die Gelegenheit, den Zuhörern in seinem Land den Eindruck zu vermitteln, dass er weiterhin ein gutes Verhältnis 'zu Europa' habe.“
Region braucht Respekt und Vertrauen
Beide Länder haben nun eine einzigartige Chance, ihre Beziehungen zu verbessern, mahnt Kathimerini:
„Dies ist für beide Seiten eine Gelegenheit, ihre Rhetorik abzuschwächen und extreme Stimmen in beiden Ländern zu isolieren, die bei jeder Gelegenheit Zwietracht säen wollen. Natürlich muss, will man Missverständnisse vermeiden, während des Besuchs des mächtigen Staatschefs ein gewisser Konsens erreicht werden. Und das bedeutet in der schwierigen Beziehung der beiden Nachbarn immer ein gewisses Risiko. Geographisch sind beide Länder zur Koexistenz verdammt. Es geht darum, einen Rahmen für gegenseitigen Respekt und Vertrauen zu schaffen, der Griechenland und der Türkei ermöglicht, friedlich in einer gefährlichen Nachbarschaft und in einem unsicheren internationalen Klima zu leben.“
Erdoğan wird seine Zypern-Haltung niemals ändern
Der Besuch Erdoğans in Athen wird die Lösung der Zypern-Frage wohl nicht voranbringen, fürchtet Phileleftheros:
„Ein ständiger Stachel im Verhältnis beider Länder ist Zypern und die andauernde Besetzung der Insel durch die Türkei. ... Es ist klar, dass der Dialog niemandem geschadet hat. Selbst mit dem Erdoğan-Regime, das keinen Willen zur Verständigung hat, sondern allein der Logik der Durchsetzung seiner Interessen folgt. Athen will offenbar auf jeden Fall, dass am Ende dieses Treffens Ergebnisse stehen. Doch das hängt nicht nur von der griechischen Seite ab. Man braucht zwei Personen, um Tango zu tanzen. ... Es gibt keinen Optimismus bezüglich der Ergebnisse dieses Besuches, da Erdoğan seine Haltung nicht ändert. Stattdessen verschärft er seine Haltung und besteht auf der Durchsetzung seiner Politik. Das ist die Türkei, und das ist Erdoğan.“