Hat Davos noch Gestaltungsmacht?
Das Weltwirtschaftsforum in Davos steht dieses Jahr unter dem Motto "Für eine gemeinsame Zukunft in einer zerrütteten Welt". Ob die hier versammelten Schlüsselakteure aus Wirtschaft und Gesellschaft Gutes für die Zukunft des Planeten bewirken können, da sind sich Europas Journalisten uneinig. Eindeutig aber ist für sie: Seit den Anfängen von Davos hat sich so einiges verändert.
Das Gemeinsame wird eher weniger
Das Motto des Gipfels wird sich nur schwer verwirklichen lassen, prophezeit Daily Sabah:
„Es ist schon paradox, wie ausgerechnet die aufstrebenden Wirtschaftsmächte, die aus dem Marktsozialismus kommen, sich die konventionellen und auf neoliberaler Integration fußenden Wirtschaftsideale von Davos zu eigen machen. Was auch immer die Weltmächte hier offiziell verlautbaren, die entscheidenden Wirtschaftsakteure wissen eines: Sie müssen ihre Konzerne auf eine Welt vorbereiten, in der es mehr Protektionismus geben wird, mehr Spannungen zwischen regionalen Blöcken, mehr Rivalität zwischen China und den USA, und ein komplexes Netzwerk wechselnder bilateraler Bündnisse. Eine gemeinsame Zukunft zu schaffen wird immer schwieriger.“
Freihandel und Nationalismus gehen zusammen
Das Weltwirtschaftsforum lehrt, dass alte Gewissheiten in der heutigen Wirtschaftsordnung nicht länger gelten, so La Repubblica:
„Jahrzehntelang gab sich der Westen der Illusion hin, außerhalb freier politischer Systeme gebe es auch keine freie und florierende Wirtschaft. Aber gestern erschien Indiens Premier Narendra Modi in Davos mit einer anderen Philosophie. ... Hier kam [mit Modi] die größte Demokratie der Welt nach Davos - eine Demokratie, die in einer Weise in den Nationalismus abzudriften droht, dass die ganze Region alarmiert ist. Sie kommt und wirbt für einen freien Markt, für die Globalisierung. … Als Modi auf Hindi zu sprechen begann, griffen hunderte Hände hektisch [für die Übersetzung] nach ihren Kopfhörern. Eine Szene, die symbolisch für eine Welt steht, die nur schwer begreifen kann, dass ihr sicher geglaubtes Zentrum sich verliert.“
Davos kann Weichen für die Zukunft stellen
Davos kann dabei helfen, zu einem neuen Gesellschaftsvertrag zu kommen, glaubt Stéphane Benoit-Godet, Chefredakteur von Le Temps:
„Viele hatten gehofft, dass die Technologie ein neues Paradigma schafft: dass Wissen allen zur Verfügung steht. Dieses Projekt ist gescheitert. Die Technologie ist nicht mehr die Lösung, sondern ein weiteres Problem. Die Firmen, die die Welt der Innovationen bestimmen, zwingen ihre Mitglieder zum Konsens, fördern den suchthaften Konsum ihrer Produkte, stören die Debatte. ... Wie bündelt man also die Energien, um zu einer nachhaltigen Entwicklung zu kommen, die die individuellen Freiheiten respektiert? ... Es ist Zeit für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Und Davos ist einer der Orte, wo dieser definiert wird.“
Schwarz-Weiß-Denken verbaut Lösungschancen
Die Kapitalismuskritiker verschließen sich einer offenen Diskussion, klagt L'Opinion mit Blick auf den Bericht der Entwicklungshilfeorganisation Oxfam:
„Man hätte sich ein Wortgefecht über die These erhofft, wonach Reichtum dem Kampf gegen Armut schadet. ... Wünschen würde man sich auch einen Kommentar zu der Tatsache, dass das Trio der angeprangerten Reichen [Bill Gates, Jeff Bezos und Warren Buffett] alles andere ist als ein Club von Erben und zwei von ihnen ein moralisches Engagement - 'the giving pledge' - unterzeichnet haben, demzufolge sie die Hälfte ihres Vermögens spenden werden. Für die Artilleristen von Davos ist Nuancierung allerdings ein Fremdwort. Schade, denn durch die Verkürzung der Diagnose schränken sie die Reflexion über die notwendigen Mittel ein, um die Globalisierung integrativer zu machen. Liegt die Schuld wirklich allein bei den Milliardären?“
Arme werden reicher
Auch der Tages-Anzeiger bemängelt, dass der Oxfam-Bericht eine wichtige Entwicklung außer Acht lässt:
„Die Organisation wirbt mit dem Slogan 'Für eine gerechte Welt. Ohne Armut.' Dass die Welt punkto Armut aber zählbare Fortschritte macht, kommt in ihrem Bericht zu kurz: Seit 1990 hat sich die Zahl der Menschen in extremer Armut mindestens halbiert. Die Weltbank geht heute davon aus, dass rund 10 Prozent der Erdenbürger in extremer Armut leben. Vor der Jahrtausendwende waren es noch 30 Prozent gewesen. Die eigentlich ermutigende Botschaft bei der globalen Ungleichheit wäre also: Klar, die Reichen werden immer reicher. Aber die Armen werden nicht ärmer. Im Gegenteil.“
Ein Forum für Narzissten
Die Realität wird in Davos des Öfteren verschwiegen, glaubt Corriere della Sera:
„Dutzende Führungskräfte werden auftreten und bei fast allen wird der persönliche Narzissmus schwer von der (legitimen) Liebe zur Nation zu unterscheiden sein. … So wird am Freitag der US-Präsident den Sinn seines Slogans 'America First' erklären. … Angesichts dessen werden die Regierungschefs von Italien, Frankreich und Deutschland morgen ein leichtes Spiel haben, die Zuhörerschaft zu überzeugen. Sie wollen am gleichen Tag auftreten und dafür Applaus bekommen, dass sie sich dafür einsetzen, die Märkte der Welt offen zu halten. ... Doch ohne die Einkäufe von Trumps 'protektionistischem' Amerika, mit seinem Handelsbilanzdefizit von 450 Milliarden Dollar, droht der Eurozone eine neue Rezession. Doch das wird Merkel vermutlich in Davos nicht sagen.“