Syrien: Kämpfe in Afrin, Bomben auf Ost-Ghuta
Während in der kurdischen Provinz Afrin in Nordsyrien eine direkte Konfrontation zwischen der Türkei und dem Assad-Regime droht, sind in der Rebellenenklave Ost-Ghuta bei Damaskus 400.000 Menschen eingekesselt. Seit Tagen bombardiert die syrische Armee das Gebiet, nun will der UN-Sicherheitsrat über die Lage beraten. Journalisten beschreiben, wie die Bevölkerung den Kriegsparteien hoffnungslos ausgeliefert ist.
Win-win-Situation für Erdoğan, Putin und Assad
Der Vormarsch von Assad-nahen Truppen in Afrin könnte nach Meinung von Radio Kommersant FM ein abgekartetes Spiel sein:
„Das Szenario geht so: Erdoğan versetzt die Kurden in Angst und Schrecken, er ist der böse Herrscher; jedoch eilen dem leidenden Volk die guten Kräfte zu Hilfe und retten die bedrängten Brüder. Dies sind Assads Kräfte, gelenkt von Moskauer Hand. ... Ankara ist natürlich dagegen - aber stimmt letztlich zu. Im Ergebnis erweitert sich das vom offiziellen Damaskus kontrollierte Gebiet und Erdoğan bekommt Garantien, dass die Kurden ihn nicht angreifen und kein eigenes Kurdistan ausrufen. Denn jetzt ist Assad für sie zuständig - mit dem Kreml als Garanten. Sicher, nichts funktioniert ideal. Aber es ist nicht auszuschließen, dass Putin und Erdoğan sich vorab über all das geeinigt haben.“
Das neue Srebrenica
Aftonbladet richtet den Blick auf die Rebellenenklave Ost-Ghuta:
„Ghuta ist das neue Srebrenica, schreibt Kolumnist Simon Tisdall im Guardian. Die Vereinigten Staaten handeln nicht. Die Uno ist hilflos. Der Sicherheitsrat ist nach dem russischen Veto machtlos. Das fehlende Handeln der Welt hat, vor allem nach dem Fall der IS-Terrormiliz, dem Regime eine neue Dynamik gegeben bei den Bemühungen, die Kontrolle über das verwüstete Land wiederzuerlangen. Aus US-amerikanischer Sicht wird so der Einfluss des Iran in der Region gebremst. Aus russischer Sicht behält Moskau im Nahen Osten weiterhin seine Macht. Im Norden Syriens kämpft die Türkei gegen die kurdischen YPG-Milizen, die wiederum den Schutz und die Unterstützung der Regierung in Damaskus suchen. Der Verfall geht weiter und die Zivilisten zählen ihre Toten.“
Russland unterstützt den blutrünstigsten Diktator
Auch Rzeczpospolita kommentiert die Kämpfe um Ost-Ghuta und bemängelt, dass die Medien meistens nur über die Gräuel der Assad-Armee berichten:
„Selbst die schlimmsten Dschihadisten kann man nicht durch die Bombardierung von Krankenhäusern und anderen zivilen Objekten bekämpfen. Doch genau das tun die syrische Regierungsarmee und die russische Luftwaffe. Die Assad-Armee zu verurteilen, fällt westlichen Politikern leicht, über die Russen schweigen sie. ... Eigentlich kann man noch nicht einmal sagen, dass die Rolle der Russen beim Massakrieren von Zivilisten vergessen wird. Ihre Rolle wird einfach verschwiegen. Der Effekt ist, dass Russland sein Image sowohl im Nahen Osten als auch im Westen aufgebessert hat, obwohl es den blutrünstigsten Diktator unserer Zeit unterstützt.“
Der IS ist bezwungen, die anderen Kriege bleiben
Der Westen war im Syrienkonflikt zu einseitig auf den Kampf gegen die IS-Miliz fixiert, kritisiert La Tribune de Genève:
„Die Schweiz, Europa, der Westen haben in Syrien lange Zeit nur eine Priorität sehen wollen: den Kampf gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat. Die Offensive gegen diesen Obskurantismus war gewiss unerlässlich, sie entpflichtete uns aber nicht davon, auch darüber hinaus zu blicken. Was wird aus den Kurden, wenn sie einmal nicht mehr dazu dienen, Daesh zu bekämpfen? Was wird aus den anderen Gebieten, die ebenfalls der Kontrolle Damaskus' entkommen? Daesh, Feind Nummer Eins des Westens, hat den Rückzug angetreten. Übrig bleiben all die anderen Kriege, die unter der Asche glühten - und jetzt vor unseren Augen neu entflammen.“
Am Ende heißt der Gewinner Assad
Die Unterstützung der Kurden ist nicht mehr als der neueste Schachzug Assads in einem grausamen geopolitischen Spiel, kommentiert der Deutschlandfunk:
„Denn von seinem eigentlichen Ziel, alle Gebiete Syriens wieder vollständig zurückzuerobern, ist Assad keinen Millimeter abgerückt. Deshalb hatte er auch lange alle Hilferufe der Kurden in Afrin ungehört verhallen lassen - die Offensive der Türkei kam ihm eigentlich durchaus gelegen, denn Assad hat kein Interesse daran, dass die Kurden auf syrischem Gebiet zu stark werden. … Mit seiner vermeintlichen Hilfe für die Kurden nutzt Assad jetzt die Gelegenheit, seinen Einflussbereich wieder bis zur türkischen Grenze auszudehnen als vermeintlicher Retter in der Not. … Der Gewinner am Ende … heißt Assad - trotz aller Verbrechen gegen die Menschlichkeit wird sein Regime diesen Krieg überstehen.“
Putin will Ankara ausbremsen
Der Einmarsch von Assad-treuen Truppen in Afrin ist ein Schachzug von Putin, ist Karar überzeugt:
„Es sieht so aus, als sei Russland nicht besonders erfreut über eine Wiederbelebung der Beziehungen [der Türkei] mit Amerika und Europa, die sich nach den Gesprächen vergangener Woche abzeichnete. Putin, der dadurch auf Anhieb wieder er selbst wurde, legte Afrin auf den Tisch und spielte die Regime-Karte aus. Zweifellos ist dies kein Vormarsch, den das nahezu auf der gesamten Linie geschwächte Assad-Regime auf eigene Faust machen könnte. Man muss also kein Hellseher sein, um zu merken, dass hinter dem Interesse des [Assad-]Regimes an Afrin Russland und der Iran stehen.“
Kein Stellvertreterkrieg mehr
Die Stellvertreterkriege in Syrien drohen nun in direkte Konfrontationen zu münden, warnt The Independent:
„In Syrien haben wir es mittlerweile mit einer Kombination aus verschiedenen, miteinander verbundenen Stellvertreterkriegen zwischen den Supermächten USA und Russland einerseits und den wechselnden Allianzen der Regionalmächte Türkei, Iran und Saudi-Arabien andererseits zu tun. ... Es besteht die Gefahr, dass diese Stellvertreterkriege zu einer direkten Konfrontation führen. Wir hatten bereits den Fall, dass die von den USA gelieferte Flugabwehr ein russisches Kampfflugzeug vom Himmel holte. Nun drohen türkische Streitkräfte auf vom Iran unterstützte schiitische Milizen zu treffen. Wenn es zu solchen direkten Konfrontationen kommt, werden die Risiken noch viel größer.“
Syrien-Gespräche mit allen Akteuren starten
Welche Zugeständnisse alle Seiten machen müssten, damit die aktuelle Eskalation entschärft wird, skizziert Avvenire:
„Es bedarf des Mutes, sich wieder an einen Verhandlungstisch zu setzen, an dem alle Akteure vertreten sind, ohne Vorbedingungen und Ausschlüsse. Für den Westen bedeutet das, der Realität ins Gesicht schauen zu müssen: Der Iran und Russland müssen Teil der Lösung des syrischen Problems sein, sie können nicht ausgeschlossen werden, um irgendeinem nahöstlichen Staat einen Gefallen zu tun. Der Iran seinerseits muss aufhören, bedingungslos einen grausamen Diktator wie Assad zu schützen. ... Die Türkei kann nicht leugnen, dass die Kurden ein Mitspracherecht in Syrien nach dem Sieg über die IS-Miliz haben, während die Kurden selbst ihre internen Spaltungen überwinden und ihre territorialen Ambitionen zügeln müssen.“