Macrons Kräftemessen mit den Gewerkschaften
Seit einer Woche legen die Beschäftigten der französischen Staatsbahn SNCF den Zugverkehr im Land weitgehend lahm. Als Protest gegen die Reformpläne Macrons, die unter anderem Privilegien der Eisenbahner abschaffen sollen, wollen sie bis Ende Juni im Wechsel zwei Tage streiken und drei Tage arbeiten. Ist dieser Arbeitskampf unzeitgemäßer Egoismus oder Engagement für das Gemeinwohl?
Dieser Streik nutzt niemandem
Als egoistisch und anachronistisch verurteilt Le Figaro den Streik bei der französischen Bahn SNCF:
„Niemand hat etwas davon, wenn der Zustand dieser Firma beibehalten wird. Sie leidet unter einer riesigen Verschuldung, ihre Leistungen stehen in immer schlechterem Ruf, und sie ist schlecht auf Marktöffnung und Konkurrenz vorbereitet. Indem sich die Bahner einer Neustrukturierung widersetzen, setzen sie ihre eigene Zukunft aufs Spiel, und die Zukunft eines öffentlichen Dienstes, den die Franzosen sehr lieben. Ihr Kampf scheint der einer Nachhut zu sein und er ist völlig egoistisch. Er ist sogar tadelnswert, denn die SNCF gehört nicht ihnen, sondern vor allem den Kunden, die das Recht auf eine Transportdienstleistung haben, die den Milliarden Euro entspricht, die sie jährlich dafür bezahlen.“
Bollwerk gegen Auswüchse der Privatisierung
Der Kampf der Bahnangestellten ist wichtig, um britische Zustände zu verhindern, meint der Philosoph Henri Pena-Ruiz in Libération:
„Die Engländer zahlen drei- oder viermal so viel wie wir für den Transport. Wollen wir das wirklich? Der 'private Service in öffentlicher Hand' als Alternative zum echten öffentlichen Dienst ist ein Mythos. ... Liebe Bahnangestellte, haltet durch, denn euer Kampf ist von allgemeiner Bedeutung! Ihr verteidigt das Gemeininteresse. ... Trotz der Hetzkampagnen der Medien gibt es immer mehr Menschen, die euch unterstützen, denn eure Bewegung ist vorbildlich. Ihr bewahrt das Ideal der Solidarität des öffentlichen Dienstes. Bei eurem Kampf geht es um unsere Zukunft, die Zukunft einer Gesellschaft, die sich den Sinn für das Allgemeingut bewahrt hat.“
Gefährliche Machtprobe
Dass Macron die Konfrontation mit den mächtigen Bahngewerkschaften sucht, obwohl es wichtigere Themen gäbe, könnte für ihn nach hinten losgehen, kommentiert die Süddeutsche Zeitung:
„Hinter Macrons Eskalationsstrategie steht die in seinem Land verbreitete Vorstellung, der Präsident müsse sich zu Beginn seiner Amtszeit in einer 'Mutter aller Schlachten' als starker Anführer durchsetzen. ... Das zeugt nicht nur von einem archaischen Verständnis von Autorität. Die Veränderung bei SNCF zum Zeichen der Modernisierungsfähigkeit Frankreichs insgesamt zu überhöhen, droht sich darüber hinaus gegen Macron selbst zu wenden. Denn es ist nicht auszuschließen, dass die SNCF-Reform am massiven Widerstand der Bahn-Beschäftigten scheitert - und damit der Präsident als gescheitert oder mindestens als geschwächt gilt. Andere Reformen, die weniger Widerstand hervorrufen, wären auch blockiert.“
Ohne Reform hat die Staatsbahn keine Zukunft
Das privatisierte britische Eisenbahnsystem wird von französischen Gewerkschaftern als abschreckendes Beispiel und Begründung für ihren Widerstand gegen die Bahnreform genannt. Doch der Vergleich funktioniert nicht, warnt The Guardian:
„Frankreich kann aus der chaotischen jüngeren Geschichte der britischen Eisenbahn sicher lernen. Doch wenn man die Situationen in beiden Ländern genauer unter die Lupe nimmt, erkennt man, wie unterschiedlich sie sind. Großbritannien ist ein warnendes Beispiel für die Gefahren, die drohen, wenn auf eine Privatisierung keine Reformen folgen. Frankreich wiederum macht die Probleme eines unreformierten verstaatlichten Systems deutlich. In Wahrheit sollte nicht ein System durch das andere ersetzt werden, sondern beide brauchen Veränderung.“
Unfaire Privilegien
Die Vorhaben der französischen Regierung sind überfällig, findet die Neue Zürcher Zeitung:
„Im Fokus steht das 'Eisenbahner-Statut', über das die meisten SNCF-Mitarbeiter verfügen. Dessen Vorrechte sind in der derzeitigen Form unhaltbar und unfair gegenüber Berufstätigen anderer Branchen. Hier ist zunächst der lebenslange Kündigungsschutz der Eisenbahner zu nennen. Hinzu kommen leicht erreichbare zusätzliche Ferientage, so dass Eisenbahner auf 50 freie Tage pro Jahr kommen können. Wie die Wirtschaftszeitung 'Les Echos' ausführt, konnten Zugführer bis zum Jahr 2016 mit schon 50 Jahren in Rente gehen, andere Eisenbahner mit ebenfalls sehr frühen 55.“
Macron legt sich mit Linken und Rechten an
Nicht nur Frankreichs Eisenbahner, sondern auch Pflegekräfte, Piloten und Studenten stellen Forderungen und äußern Kritik. Libération erklärt, was diese Gruppen einen könnte:
„Die Bewegungen - zumindest die meisten von ihnen - haben eines gemeinsam: Sie lehnen die Liberalisierung ab und verteidigen die Tradition des öffentlichen Dienstes. ... Genau darin schlummert die Gefahr für die Regierung. ... Obwohl davon ausgegangen wird, dass eine 'neue Welt' entsteht, bleibt die Verteidigung der sozialen Rolle des Staats eine französische Invariante [Unveränderlichkeit], die die traditionellen Grenzen der Parteien überschreitet. Man findet sie in unterschiedlicher Ausprägung im gesamten linken Spektrum, aber auch in den populistischen Äußerungen der Rechtskonservativen. Eine Vereinigung zeichnet sich bislang noch nicht ab, könnte sich aber schrittweise herausbilden.“
Macron will heilige Kuh schlachten
Das französische Eisenbahner-Statut verschafft den Beschäftigten einen lebenslangen Kündigungsschutz, 50 Urlaubstage im Jahr und eine Pension mit 52 Jahren. Warum es Macron mit seiner Bahnreform darauf abgesehen hat, erklärt De Volkskrant:
„Der Angriff von Macron hat große politische und symbolische Bedeutung. Das Statut der Eisenbahner stammt ursprünglich aus den 1920er Jahren und wurde zu einer heiligen Kuh der französischen Arbeiterbewegung. Zahllose Politiker haben sich daran die Zähne ausgebissen. Wenn es Macron gelingt, das Statut abzuschaffen, schreibt er Geschichte und ebnet den Weg für weitere Reformen. Für den Präsidenten ist das Statut das Symbol einer alten Welt, in der eine eiserne Rechtsposition die Arbeitnehmer schützte. Das kollidiert aber nach seiner Sicht mit einer neuen Welt, die Flexibilität fordert.“
Dem Druck der Straße nicht nachgeben
Nur wenn Macron diesen Konflikt zu seinen Gunsten entscheidet, kann er seine politischen Ziele erreichen, analysiert Le Figaro:
„Er ist bereit, in den Ring zu steigen. Emmanuel Macron riskiert mehr, als bei der Auseinandersetzung mit den Bahnbeamten im 'Halbstreik' einfach zu scheitern. Die Fähigkeit des Staatschefs, seine Ziele zu erreichen, also das Land zu verändern und wirtschaftlich wieder auf die Beine zu stellen, steht durch die harte Auseinandersetzung zwischen dem Präsidenten der Republik und den Bahngewerkschaften auf dem Spiel. ... Seit seiner Wahl versucht der Staatschef, möglichst nicht in die Fußstapfen seiner Vorgänger zu treten. Dem Druck der Straße standzuhalten, den Bahnbeamten die Stirn zu bieten und letztlich die SNCF von Grund auf zu reformieren, das wäre tatsächlich eine Neuerung.“
Stresstest für den Präsidenten
Der französische Präsident wird sich auf einiges gefasst machen müssen, prophezeit Les Echos:
„Frankreich bleibt Weltmeister im Streiken. ... Auch wenn es dafür keine wirklich verlässlichen Indikatoren gibt - denn jedes Land zählt diese Konflikte anders - ist die französische Wirtschaft doch diejenige mit der höchsten Anzahl von verlorenen Arbeitstagen pro Angestelltem. ... Die Bahnbeamten können immer noch eine Menge bewegen, wenn es darum geht, für einen Streik zu mobilisieren, und viel Ungemach zu verursachen. Das heißt nicht, dass der sehr harte Konflikt, der sich abzeichnet, auf andere Bereiche abfärben wird - die Gewerkschaft CGT steht mit ihrer Strategie weiterhin alleine da. Aber für die meisten ist dieser Streik ein politischer Test, der noch lange andauern wird. Er wird ein wichtiges Element in Macrons fünfjähriger Amtszeit werden.“
Macron kann es nur falsch machen
Das haben sich die Gewerkschaften geschickt ausgedacht, meint Le Point:
„Das ist neu, das gab es noch nie! Die Bahngewerkschaften haben angekündigt, dass vom 3. April bis 28. Juni an jeweils zwei von fünf Tagen gestreikt wird. Das bedeutet 36 Tage vorprogrammierte Störungen über drei Monate hinweg für die Reisenden. Das ist wirklich kreativ! Ein Trimester garantierter Saustall, nur eineinhalb Monate Gehaltsausfall für die Streikenden und das Ganze abgestimmt auf die von der Politik vorgesehene Verhandlungsperiode. Darauf musste man erst einmal kommen. Zumindest ist die Regierung gewarnt. Es bleiben ihr 15 Tage, um zu verhandeln. ... Wenn Macron jetzt lockerlässt, wird man sagen, er habe wie seine Vorgänger dem Druck der Straße - in diesem Fall der Eisenbahner - nachgegeben. Wenn er sich hingegen unflexibel zeigt, riskiert er einen 'Nervenzusammenbruch' wie Juppé 1995.“
Geringschätzung der Reisenden
Offenbar scheren sich die Bahnmitarbeiter einen Dreck um ihre Kunden, ärgert sich Le Figaro:
„Die Gewerkschaften haben sich auf die Debatte darüber gestürzt, ob die im Beamtenstatus der Bahnangestellten enthaltenen Privilegien weiter existieren sollen oder nicht. Begraben haben sie die Diskussion über die Ineffizienz eines öffentlichen Dienstes, der seine Mission nicht mehr erfüllt, und dessen Fehler vom Steuerzahler finanziert werden. Wenn sie die Servicequalität wirklich verbessern wollen würden, bei Beibehaltung der relativ niedrigen Preise und der Kontrolle der Management-Entscheidungen, dann hätten sie diese Reform mit Wohlwollen begegnen sollen! Somit ist der Streik nicht länger Synonym für die Rettung eines öffentlichen Dienstes, sondern gleichbedeutend mit der traurigen Geringschätzung der Reisenden. ... Die Franzosen haben Recht, wenn sie das Projekt der Regierung unterstützen.“
Gut für ganz Europa
Die Süddeutsche Zeitung hofft, dass sich Frankreich mit der Reform endlich dem europäischen Bahnverkehr öffnet:
„Die EU drängt seit Jahren darauf. Doch bislang jeder Präsident in Paris, egal ob rechts oder links, wusste: Frankreichs Eisenbahner sind im europäischen Vergleich nicht konkurrenzfähig. Deshalb schirmte das Land seine Staatsbahn ab, ließ den Konzern aber in andere EU-Länder expandieren, die ihren Markt öffneten, darunter Deutschland. Auch das war ungerecht und entsprach nicht den Regeln. Macrons Reform könnte den Staatskonzern nun wettbewerbsfähiger machen. Wenn sie gelingt, mag sie der erste Schritt hin zu einer wechselseitigen Öffnung werden, die unerlässlich ist, wenn der EU-Binnenmarkt wirklich funktionieren soll.“
Die Franzosen sind bereit: jetzt oder nie!
Endlich bricht die Regierung mit der Tradition, nach der der Staat einfach die Tarifpartner über Reformen streiten ließ, lobt Le Figaro:
„Dass sich bei den Gewerkschaften derzeit so viel Wut zusammenbraut, liegt daran, dass die Regierung Philippe mit dieser Praxis der institutionalisierten Abwälzung von Verantwortung bricht. Zum ersten Mal seit langer Zeit übernimmt die Politik wieder die Oberhand und entscheidet. Dies ist zwar noch lange keine Garantie, dass der versprochene Wandel auch stattfindet. Doch immerhin verschafft sich die Politik die Chance, den Umbau durchzusetzen. Die gute Nachricht ist, dass die Franzosen Umfragen zufolge des Stillstands überdrüssig und stärker als in der Vergangenheit zu kühnen Schritten bereit sind. Für die immer wieder aufgeschobenen Reformen gilt: jetzt oder nie!“