Was hat die Türkei mit Afrin vor?
Rund zwei Monate nach Beginn ihrer Militäroperation haben türkische Soldaten und verbündete Rebellen das nordsyrische Afrin eingenommen. Die Kurden-Miliz YPG hat sich zurückgezogen, Zehntausende Menschen sind auf der Flucht. Die Türkei kündigte an, nun Aufbauarbeit zu leisten. Kommentatoren beleuchten die türkischen Pläne und Interessen.
Afrin ist erst der Anfang
Nach der Einnahme Afrins trifft Ankara jetzt mehrere strategische Maßnahmen, erläutert Daily Sabah:
„Inzwischen wurden bereits die ersten Schritte zum Wiederaufbau eingeleitet. Vor einigen Tagen kam der Afrin-Befreiungskongress in der südöstlichen türkischen Provinz Gaziantep zusammen, bei dem 100 angesehene Exilanten aus Afrin den Gemeinderat wählten. Sie werden schon bald mit ihrer Arbeit in der Stadt beginnen. Wir werden jetzt zeitgleich zwei Bemühungen beobachten: den Wiederaufbau des zerstörten Afrin - wie bereits in al-Bab geschehen - und die nächsten Schritte der Türkei gegen die YPG-Bedrohung. Wie Präsident Recep Tayyip Erdoğan schon oft betont hat: Der Fokus muss jetzt auf der PKK in Sindschar [Irak] und der YPG in Manbidsch [Syrien] liegen.“
Testfeld für türkische Rüstungsindustrie
Der Krieg in Syrien dient vor allem auch wirtschaftlichen Interessen, analysiert Naftemporiki:
„Syrien ist ein günstiges Testfeld. So hat die russische Armee 215 neue Waffensysteme in Syrien eingesetzt. ... Und der türkische Premierminister betonte am 21. Januar, dass 75 Prozent der in Syrien verwendeten Waffen und Munition in der Türkei hergestellt wurden. Die 'Operation Olivenzweig' war eine großartige Gelegenheit für die türkische Rüstungsindustrie. Und sie war begleitet vom präsidialen Stolz auf die Drohnen des Typs Bayraktar TB2, die von der Firma Baykar Makina hergestellt werden. Erdoğans Schwiegersohn, Selçuk Bayraktar, ist dort der Technologiechef.“
Ankaras Pläne werden keinen Frieden bringen
Mit den türkischen Plänen für Afrin ist der nächste Konflikt schon vorprogrammiert, fürchtet der Tages-Anzeiger:
„[S]elbst wenn die Türkei nun ankündigt, ihre Soldaten bald wieder aus Afrin zurückzuziehen, ist das keine rein positive Nachricht. Der Vizepremier sagt, man werde den Landstrich seinen 'wirklichen Besitzern' zurückgeben. Damit sind wohl kaum die kurdischen Einwohner gemeint, die nun geflohen sind. Ankara plant wohl eher, in die Türkei geflüchtete syrische Araber hier anzusiedeln. Damit ist der nächste Konflikt vorprogrammiert - Frieden hat erzwungener Bevölkerungsaustausch noch nie gebracht.“
Plünderungen statt Wiederaufbau
An den versprochenen Wiederaufbau knüpft Artı Gerçek wenig Hoffnungen:
„Dahinter steckt zwar keine Lüge, denn es spiegelt zumindest den Unternehmergeist des Außenministeriums wieder. Aber Unternehmung und Entwicklung bedeuten in der Sprache der Regierung nichts anderes als brutale, neoliberale Plünderung - ein Unternehmertum, bei dem die Städte vollkommen abgerissen und neu errichtet werden. ... Natürlich nicht so, wie die Bewohner es wünschen. Man hat sie auch nicht nach ihrer Meinung gefragt. Sondern, indem man die Städte an heimische Firmen verschenkt. Es geht also um die Fortsetzung der Plünderung, die wir seit Jahren in unterschiedlicher Intensität, Dimension und in verschiedenen Regionen erleben. Zentralistisch, autoritär. ... Und was wird aus den Menschen? Die Hunderttausenden, die ihre Angehörigen verloren haben, vertrieben und zur Migration gezwungen wurden? Keine Antwort.“
Erdoğan könnte weitere Grenzen verschieben
Das Onlineportal News247 warnt vor dem, was man von der Türkei als nächstes zu erwarten habe:
„Eine Regierung wie die türkische, die das Flüchtlingsthema zu Erpressungszwecken nutzt und zugleich Geld von der EU nimmt, sich aber von ihr und von Griechenland zurückzieht, wird nicht lange brauchen, um auch anderswo Grenzen zu überschreiten. Bei einem Staat wie dem türkischen, der nach Belieben auf 'einer Seite der Landkarte' Grenzen mit Waffengewalt verschiebt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er es auch auf der anderen Seite versucht. Und bei einem Anführer, der von einer großen Türkei redet und expansionistisch und imperialistisch ist wie Erdoğan, ist es nur eine Frage der Umstände, wann er es auch an den anderen 'Grenzen seiner Herzenslust' versuchen wird.“
Europa muss mehr Rückgrat zeigen
Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei darf die EU nicht von der notwendigen Kritik an Erdoğans Syrien-Politik abhalten, fordert die Neue Zürcher Zeitung:
„Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens mit der EU liegt die türkische Demokratie dermassen in Trümmern, dass hierzulande kaum jemand die Militäroffensive in Syrien und die zynische Flüchtlingspolitik infrage stellt. Auch der Westen hüllt sich in Schweigen oder übt höchstens handzahme Kritik. Offenkundig befürchten manche, der zornige Mann am Bosporus könnte den Pakt auflösen - eine Drohung, die Ankara im Halbjahrestakt wiederholt. Dabei ist eine neue Massenflucht Richtung Griechenland unwahrscheinlich. Viele Migranten wissen, dass sie in einem trostlosen Internierungslager enden würden. Es würde Europa gut anstehen, mehr Rückgrat gegenüber Erdoğan zu zeigen.“
Erdoğan Einhalt gebieten
Sanktionen und eine klare Haltung gegenüber der Türkei fordert der Deutschlandfunk:
„Schluss mit der Schockstarre, und Schluss mit der gefährlichen Hoffnung, ein paar Wochen Krieg könnten sogenannte Terroristen eliminieren und im Norden Syriens eine neue Art von Ruhe schaffen. Auch wenn es die Vereinten Nationen auf wiedermal blamable Weise nicht geschafft haben, wenigstens einen möglichen gangbaren Weg zu mehr Frieden in Syrien aufzuzeigen. Auch wenn sich ein türkischer Präsident Erdogan einen Dreck zu scheren scheint um Beschlüsse in New York. Nur die internationale Gemeinschaft kann durch Sanktionen, Strafen und glasklare Forderungen dafür sorgen, dass nicht immer mehr Leid und Unheil im Norden Syriens in den kommenden Wochen wuchern kann.“
Geopolitische Sollbruchstelle der Nato
Die Folgen der türkischen Offensive in Afrin gehen weit über den regionalen Konflikt hinaus, erklärt Der Standard:
„Die türkisch-kurdisch-syrische Grenze ist inzwischen eine Art geopolitische Sollbruchstelle geworden, an der das Nato-Mitglied Türkei gemeinsame Sache mit den Erzfeinden der Amerikaner - Russland und Iran - macht. Die Vereinigten Staaten ihrerseits sind nicht in der Lage, ihre Verbündeten in Ankara von einer Intervention abzuhalten, die für die meisten Beobachter völkerrechtswidrig ist und jedenfalls gegen die Interessen der USA läuft. Anders gesagt: Jeder Schuss, der in Afrin fällt, ist auch ein Schuss ins Knie der Nato. “
Auch ein Sieg gegen die PKK
Erdoğans ruhmreicher Sieg sollte die PKK endlich dazu bringen, die Waffen niederzulegen, freut sich hingegen Kolumnist Hakan Albayrak in Karar:
„Gott sei Dank wurde dies erreicht, ohne Afrin zu zerstören oder Blut zu vergießen. Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ist seinem Titel als Oberbefehlshaber gerecht geworden. ... Diese neuen Entwicklungen in Nord-Syrien wirken sich auch innenpolitisch in der Türkei aus und sollten die PKK dazu bringen, bedingungslos die Waffen niederzulegen. Wenn wir von den inneren Angelegenheiten der Türkei sprechen, möchte ich insbesondere anmerken, dass ein Großteil der PKK-Basis wütend auf die PKK ist, weil sie den Frieden beendet hat, und dass sie diese Wut zum Ausdruck bringt, indem sie die Solidaritäts-Aufrufe der PKK unbeantwortet lässt.“