Welche Folgen hätte die Wiederwahl Erdoğans?
In der Türkei finden Ende Juni vorgezogene Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Mit den Urnengängen tritt das neue Präsidialsystem in Kraft, das dem Präsidenten umfassende Vollmachten gibt. Einige Kommentatoren fürchten eine erneute Amtszeit Erdoğans und kritisieren seine Wahlkampftaktik. Andere glauben, dass seine Wiederwahl sich außenpolitisch positiv auswirken würde.
Wahlmanifest der AKP unglaubwürdig
Erdoğan hat vor tausenden Anhängern seine Vorhaben für die kommende Legislaturperiode vorgestellt. Doch über sein Wahlmanifest wird nur gelogen, kommentiert Evrensel:
„Die AKP-Medien und -Sprecher haben das Manifest vor dessen Kundgebung tagelang als eine 'heilige Schrift' in den Himmel gelobt. Doch jetzt kommt raus, dass alles, was sie darüber geschrieben haben, Lügen sind. ... Zweifelsohne ist der unglaubwürdigste Teil des Manifests der, in dem für die Zeit nach dem 24. Juni 'mehr Demokratie', 'mehr Freiheit' und 'mehr Unabhängigkeit für die Justiz' versprochen wird! ... Dieses Manifest, dessen Umsetzung Erdoğan und die AKP im Fall eines Wahlsiegs am 24. Juni angekündigt haben, ist die bis heute schwächste und unglaubwürdigste Schrift, die die AKP jemals im Vorfeld von Wahlen veröffentlicht hat. Das bedeutet, dass die AKP und Erdoğan in Wahrheit dem Volk nichts zu bieten haben.“
Bessere Beziehungen zu USA und EU möglich
Eine erneute Wahl Erdoğans könnte sich positiv auf die Syrienpolitik und die Beziehungen zur EU und zu den USA auswirken, prognostiziert Hürriyet Daily News:
„Im Fall seiner sehr wahrscheinlichen Wiederwahl kann von einer Feinjustierung der Politik bezüglich Syrien, Iran und anderen Ländern im Nahen Osten ausgegangen werden. Falls Erdoğan dann die Aufhebung des Ausnahmezustands bestimmt, könnte das zu einer Mäßigung in den Beziehungen der Türkei mit der EU beitragen. In den Beziehungen zu Russland, China und Japan sind große Veränderungen eher unwahrscheinlich. Doch der entscheidende Faktor der türkischen Außenpolitik ist die Erhaltung der Beziehungen zu den USA mit Blick auf Syrien, Terrorismus, Russland und die europäische Sicherheit.“
Kemalistisches Erbe wird ausradiert
Der türkische Präsident will die von Staatsgründer Atatürk eingeleitete westliche und säkulare Orientierung des Landes rückgängig machen, klagt The Times:
„Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampftaktik ist es wie immer, sich als jemand zu präsentieren, der die Türkei verteidigt, für deren Interessen kämpft und den Feinden des Landes die Stirn bietet - ob es sich bei diesen nun um die kurdischen Separatisten der PKK, die EU oder Laizisten handelt, die innerhalb des Landes den religiösen Glauben der Türken und deren Geschichte anzuschwärzen suchen. Stück für Stück hat er das kemalistische Erbe des Säkularismus, der Reformen und der westlichen Orientierung abgebaut. Stattdessen betont er die Geschichte des osmanischen Reiches, fordert eine stärkere Befolgung islamistischer Prinzipien und eine immer weitere Entfernung von Nato und EU.“
Zypern sollte sich jetzt still verhalten
Zypern sollte in den zwei Monaten vor der türkischen Präsidentschaftswahl auf Provokationen verzichten, findet Cyprus Mail:
„Schweigen und sanfte Töne könnten als diskrete Form der Unterstützung für den derzeitigen Präsidenten angesehen werden, die ihm dabei helfen, seine fast sichere Wiederwahl zu sichern. Im Gegenzug könnte die Republik Zypern in der Zeit nach der Wahl mehr Verständnis erwarten, wenn die interkommunalen Diskussionen [zur Wiedervereinigung Zyperns] mit höchster Geschwindigkeit wieder aufgenommen werden sollen. Mit anderen Worten: Unhöfliche Slogans und Adjektive, die keinen Zweck erfüllen, und jedweder Druck sollten in den kommenden zwei Monaten insbesondere von den Massenmedien vermieden werden.“
Moskau muss strategischen Partner genau beobachten
Für Moskau birgt die vorgezogene Neuwahl in der Türkei Vor- und Nachteile, analysiert Ria Nowosti:
„Einerseits betrachtet Moskau Erdoğan als berechenbaren Partner und möchte mit ihm weiter kooperieren. Diese Berechenbarkeit dürfte in dem Moment zunehmen, in dem Erdoğan die Wahl gewinnt und neue Vollmachten als Präsident erhält. Außerdem muss er dann nicht mehr so sehr auf den Populismus setzen, was bedeutet, dass Moskau und Ankara sich leichter in der Afrin-Frage und über das Nachkriegsschicksal Syriens verständigen können. Andererseits muss sich Russland Sorgen mach über diesen Mix aus Islamismus und Nationalismus, den Erdoğan zur Basis seiner Außenpolitik macht. ... Das Projekt Ankaras sieht die Dominanz in der gesamten vom Pantürkismus beanspruchten Welt vor. ... Russland hat hier keine andere Wahl, als sich [der Türkei] entgegen zu stellen und rote Linien zu ziehen.“
Präsident ergreift Flucht nach vorn
Warum der türkische Präsident Erdoğan es eilig hat, erklärt Die Presse:
„[U]nter der Oberfläche schlummern gravierende Probleme. ... Die Wirtschaft weist gute Wachstumsraten auf. Doch zugleich stürzt die Währung immer mehr ab. Die Inflation steigt. Die türkische Führung gibt 'ausländischen Mächten' die Schuld daran, doch die Schwierigkeiten sind hausgemacht. Erdoğan und seine Berater wissen, dass sich die Lage weiter verschlechtern könnte, und zwar so, dass immer mehr türkische Bürger die Auswirkungen zu spüren bekommen. Die Türken leiden schon jetzt unter den hohen Preisen. Also lautet die Strategie: Flucht nach vorn. Wählen lassen, so rasch als möglich.“
Schon wieder ein Sommer vermiest
Das ist jetzt der vierte Sommer in Folge, der durch Wahlen und politische Ereignisse verdorben wird, klagt Hürriyet:
„Die Ereignisse rasen nur so vorbei: Die Wahl vom 7. Juni im Jahr 2015, das Nachbeben und die Wiederholung des Urnengangs. Die Saison 2016 hat uns [die Gülen-Bewegung] Fetö vermiest. Mitten im Jahr haben sie sowohl Verrat an unserem Land begangen als auch unseren Sommer verdorben. Und vergangenes Jahr? Der Frühling verfloss mit dem Verfassungsreferendum, der Sommer mit dessen Nachbeben. Drei Sommer in Folge also, die wir nicht erleben, fühlen, sehen konnten. Liebe Freunde, dies ist ein Mittelmeerland, das im Grunde im Sommer lebt. ... Lasst uns doch ein wenig aufatmen. Lasst uns einen schönen Sommer verbringen.“
Gewinner steht schon fest
Der türkische Präsident kann sich seiner Sache sicher sein, prognostiziert Spiegel Online:
„Wie im Sommer 2015, als die AKP die Alleinregierung verlor, wird ... [Erdoğan] das Land, sollten die Umfragen darauf deuten, dass es knapp für ihn werden könnte, ins Chaos stürzen, um sagen zu können: 'Nur mit mir wird es Stabilität und Sicherheit geben!' … Auch sein Islampopulismus verfängt: Viele Menschen glauben, Erdoğan, der starke religiöse Mann, sei gut für die Türkei. Einen ernst zu nehmenden Herausforderer wird es wohl kaum geben. Die nationalistische MHP, eigentlich in der Opposition, wirbt selbst für Erdoğan, die kemalistische CHP, immerhin größte Oppositionspartei, ist ein Schatten ihrer selbst, und die wichtigsten Köpfe der einzig echten Opposition, der HDP, sitzen im Gefängnis. Das ist Demokratie auf Türkisch.“
Nur die Wirtschaft könnte zum Problem werden
Erdoğan hat sehr gute Karten, findet auch To Vima Online:
„Er könnte nach diesen Wahlen der absolute Herrscher werden, sogar ohne den Ausnahmezustand zu brauchen, den er derzeit unter dem Vorwand der Bedrohung durch die Gülenisten ständig erneuert. Da die Opposition in einem extrem nationalistischen Diskurs gespalten und unterdrückt ist, hat Erdoğan tatsächlich keinen mächtigen Gegner, der seine Herrschaft bedroht. Sein einziges Problem dürften die Turbulenzen der türkischen Wirtschaft sein. Die türkische Lira verliert ständig an Wert, die Defizite wachsen und die wirtschaftliche Unsicherheit wird für große Teile der Bevölkerung immer größer.“
Wählen lassen, solange alles unter Kontrolle ist
Panik bestimmt den Zeitpunkt der Neuwahl, glaubt Artı Gerçek:
„Die Afrin-Operation hat der ultrarechten Allianz [AKP und MHP] nur für kurze Zeit die Zustimmung der Wähler gesichert. Aber mit dem Ende des Kriegs fielen auch die Zustimmungswerte in den Umfragen. Es gibt keine einzige zuverlässige Umfrage oder Untersuchung, die die erforderlichen 51 Prozent garantiert. ... Auch wenn die AKP sich verhält, als sei ihr der EU-Fortschrittsbericht egal, gibt es in keinerlei Hinsicht mehr eine Legitimation für den Ausnahmezustand. Aber wie lange wollen sie den Ausnahmezustand noch verlängern? Er wird immer kostspieliger. ... Auf der anderen Seite hat 'der Palast' keine andere Chance, als im Ausnahmezustand zur Wahl zu rufen. Denn man muss Wahlen abhalten, solange alles 'unter Kontrolle' ist.“
Präsidialsystem bringt dem Land Stabilität
Je eher die Türkei zum neuen politischen System übergeht, desto schneller können sich die Märkte stabilisieren und die Wirtschaft erholen, glaubt Daily Sabah:
„Das Präsidialsystem wird umgesetzt durch eine von der Legislative unabhängige Wahl des Präsidenten. Mit anderen Worten heißt das, es ist möglich, dass der Präsident und die Regierungspartei gegensätzlichen Ideologien angehören, wie das auch häufig in den USA der Fall ist. Dieses Regierungssystem wird der Türkei letzten Endes ebenso Stabilität bringen, wie bereits den USA. Vielleicht wird es dadurch in Zukunft auch keine vorgezogenen Wahlen mehr geben. Diese sabotieren die Fähigkeit der Investoren, die Zukunft des Landes genau vorherzusagen und halten das Land in einem unendlichen Kreislauf der Unsicherheit.“