Merkels und Macrons Ideen: Klappt die Synthese?
Angela Merkel hat in einem Zeitungsinterview ihre Pläne für eine gemeinsame Sicherheits- und Flüchtlingspolitik sowie die Stabilisierung der Eurozone vorgestellt und damit erstmals auf Macrons Vorschläge zur EU-Zukunft reagiert. Europas Presse fragt sich, ob die beiden die EU gemeinsam voranbringen können oder ob ihre Vorstellungen zu unterschiedlich sind.
Deutschland will endlich wieder Brücken bauen
Die Vorschläge der deutschen Kanzlerin taugen als Basis für einen europaweiten Kompromiss beim Thema EU-Reform, lobt Kolumnistin Constanze Stelzenmüller in Financial Times:
„Angela Merkels Plan ist als eine Form der Entschuldigung für frühere deutsche Kompromisslosigkeit in der Wirtschaftspolitik zu sehen. Er signalisiert, dass Deutschland zu seiner traditionellen Rolle als Brückenbauer zurückkehren möchte. ... Merkel erkennt an, dass Deutschland als wohlhabendste Volkswirtschaft Europas mehr als andere leisten und beitragen muss. Gleichzeitig räumt sie ein, dass es unter den nördlichen und östlichen EU-Staaten Widerstand gegen eine weitere Integration gibt. Im Gegensatz zu den leidenschaftlichen Aufrufen Emmanuel Macrons zu tiefer gehenden Reformen hat Merkels Plan die Chance, als Basis für einen neuen europäischen Konsens zu dienen.“
Merkel stutzt Macrons Forderungen zurecht
Wenig überzeugt davon, dass Merkel und Macron in Sachen EU-Reform an einem Strang ziehen werden, zeigt sich Lidové noviny:
„Die Beziehungen Frankreichs und Deutschlands sind in mancher Hinsicht partnerschaftlich, in anderer Hinsicht aber sind ihre Interessen schwer kompatibel. Deutschland möchte keine große Änderung des Modells der EU, weil es am meisten davon profitiert. Frankreich dagegen will vor allem die Eurozone voranbringen und die Risiken mehr aufteilen. Nicht überraschend, dass sich Macron und Merkel da nicht einig sind. Auch wenn sich Merkel um Entgegenkommen bemüht: In der Praxis schraubt sie Macrons Forderungen auf ein Zehntel runter. ... Unterm Strich wäre es interessant zu wissen, wie viele Europäer noch glauben, dass Frankreich und Deutschland tatsächlich der Motor der EU sind.“
Blick geht auch nach Rom und Madrid
Zum Glück ist Macron sich darüber im Klaren, dass er für seine EU-Reformen nicht nur auf Deutschland angewiesen ist, freut sich Marco Zatterin, Brüssel-Korrespondent von La Stampa:
„Ohne Rom und ohne Spanien, das dank der neuen sozialistischen Regierung nun dialogbereiter sein dürfte, wird es keine solidarischere und auch keine weniger "austeritäre" Wirtschaftsunion geben. … Mit Merkel wird Macron die Grundzüge der Reformprojekts der Eurozone ausarbeiten. Es wird ein Dokument gesunder teutonischer und buchhalterischer Prinzipien sein, mit dem jedoch nur der erste, nicht aber der zweite Schritt gemacht ist. Folglich wird Macron ein paralleles Bündnis mit Italien und Spanien suchen, um der Gemeinschaft das zu geben, was ihr fehlt, nämlich einen poltischen Atem und eine wirtschaftliche Flexibilität, die die Vorteile des Zusammenbleibens deutlicher machen werden.“
Kanzlerin will nicht mehr zaudern
Positive Worte findet Der Standard für die Antwort der Kanzlerin auf Macron:
„[S]iehe da, die Europäer können aufatmen: Merkel lebt! Sie wählte als Rahmen ein langes Interview in der Frankfurter Allgemeinen, ein Signal der Solidität. Solide, seriös durchdacht und nicht nur unverbindlich ist auch das, was Merkel inhaltlich vorbringt: Erstmals stellt sie klar, dass sie eine Vertiefung der Eurozone für nötig hält, Schritt für Schritt, um die 'Konvergenz' der Staaten zu erhöhen. Sie räumt ein, dass eine gemeinsame Asyl- und Migrationspolitik schwierig ist, sagt aber, dass das dennoch das gemeinsame Ziel ist. Auch ihres. Sie macht deutlich, dass es für die Europäer um die Existenz geht: Sie müssten ihr Schicksal in die Hand nehmen. Es scheint, als sei Merkel vorsichtig sachlich geblieben, wolle aber das Zaudern aufgeben.“
Typisch Merkel: Es geht nur schleppend voran
Das wurde auch Zeit, meint Le Monde:
„Endlich! Nach Monaten enttäuschter Hoffnungen, unverständlichen Aufschubs und nutzloser Verwünschungen hat Angela Merkel am Sonntag, den 3. Juni, endlich geantwortet auf Emmanuel Macrons Vorschläge zur Neugründung Europas, die er insbesondere in seiner Sorbonne-Rede im September 2017 formuliert hatte. Diejenigen, die dachten, dass die deutsche Kanzlerin sich so viel Zeit lässt, weil sie Ambitionen für Europa entwickeln will, die denen ihres französischen Partners gewachsen sind, wurden bitter enttäuscht. Es wird keine deutsche Revolution geben. Merkel bleibt ihrem Ruf treu und macht, was sie immer macht: Es geht voran, aber nur mit kleinen Schritten.“
Zeitungsinterview ist der falsche Kanal
Die Berliner Zeitung zeigt sich befremdet von der Art und Weise, wie sich die Kanzlerin zu Wort gemeldet hat:
„Sie tat das in einem Zeitungsinterview, wollte also unbedingt die Kontrolle über die Botschaft und deren Interpretation behalten. Angemessen wäre eine Regierungserklärung im Deutschen Bundestag gewesen, vor den Vertretern des Souveräns. Es geht immerhin um die Zukunft des Landes und Europas. Einem Thema dieser Tragweite sollte ein Kanzler nicht mit Wurstigkeit begegnen. Inhaltlich ist nun gleichwohl ein Aufschlag gemacht. Aber die verhaltene Reaktion aus Paris zeigt, dass auch noch einiges zu tun ist.“
Frankreich braucht Deutschland
Merkel darf Macron nicht alleine lassen, mahnt der Zeithistoriker Timothy Garton Ash in einem Gastbeitrag in La Repubblica:
„Andernfalls wird Macron tatsächlich in Erwägung ziehen, über die Köpfe seiner Amtskollegen hinweg einen Appell direkt an die Wähler der ganzen Union zu richten und zwar bei der Europawahl im kommenden Jahr. Abgesehen von den praktischen Schwierigkeiten, Wahlen im Land anderer durchzuführen, ist das Problem dieser mutigen Idee, dass Macron, trotz all seiner großen Tugenden, in vieler Hinsicht eben genau den Technokraten einer Elite und Hierarchie verkörpert, gegen die so viele Europäer allergisch geworden sind. Wie dem auch sei: Macron ist die beste europäische Führungskraft, die wir haben. Wenn er scheitert, bange ich nicht nur um Frankreich, sondern um die Zukunft des gesamten europäischen Projekts. Deutschland möge dies bitte bedenken.“
Europa interessiert deutsche Konservative nicht
Die Kanzlerin wird von den Wünschen ihrer Partei gesteuert, kommentiert Naftemporiki:
„In der Tat fallen Merkels Pläne weit hinter Macrons Vorschläge zurück, sowohl hinsichtlich der Höhe des gemeinsamen Investitionsbudgets als auch hinsichtlich der Umwandlung des Europäischen Stabilitätsmechanismus in einen Währungsfonds. Ihre begrenzten Ambitionen sind leicht zu verstehen, weil ihre Partei, die Christdemokraten, keinen Appetit auf mehr Europa hat. Politik muss alle Werte, Bedürfnisse, Möglichkeiten und Perspektiven der Gesellschaft berücksichtigen. ... Hier ist klar, dass sich die Kanzlerin Macron annähern will, um einen Schutzschild gegen den Druck von außen [USA] zu schaffen. ... Es wird also nach mehr Europa verlangt, nicht Europa und seinen Bürgern zuliebe, sondern, um die eigenen Interessen zu schützen.“