Was kommt nach der Ära Merkel?
Nach dem angekündigten Rückzug Angela Merkels von der CDU-Parteispitze haben drei Kandidaten Chancen auf ihre Nachfolge: der frühere Unionsfraktionschef Merz, CDU-Generalsekretärin Kramp-Karrenbauer und Gesundheitsminister Spahn. Kommentatoren analysieren, welche Veränderungen auf Deutschlands EU-Politik und Parteienlandschaft zukommen.
Merz könnte Motor für EU-Reform werden
Mit seiner pro-europäischen Haltung könnte Friedrich Merz als neuer CDU-Chef der deutschen EU-Politik neue Dynamik verleihen, glaubt Kolumnist Wolfgang Münchau in Financial Times:
„In der CDU geht Konservatismus oft Hand in Hand mit einer europakritischen Haltung. Merz passt jedoch nicht in dieses Schema. Kürzlich hat er gemeinsam mit dem deutschen Philosophen und radikalen Befürworter einer weitgehenden europäischen Integration Jürgen Habermas einen Aufruf unterzeichnet, der eine EU-Armee und eine Stärkung der Eurozone fordert. Ihre Ansichten gehen für CDU-Verhältnisse ungewöhnlich weit. Doch diese Kombination aus sozialpolitischem Konservatismus und pro-europäischer Grundhaltung könnte die deutsche Politik bald entscheidend prägen.“
Zwei Parteien profitieren
Die deutsche Parteienlandschaft verändert sich grundlegend, beobachtet Le Figaro:
„Zwei Parteien träumen davon, die althergebrachte Ordnung über den Haufen zu werfen: die rechtsradikale, gegen den Islam gerichtete und populistische AfD, dritte Kraft im Bundestag, und die 'Realo'-Grünen, die für Europa sind. ... Die Populisten haben von Themen profitiert, die den öffentlichen Diskurs geprägt haben: Flüchtlinge abweisen und Europa kritisieren. Die Grünen haben davon spiegelbildlich ebenfalls profitiert, denn sie haben eine genau entgegengesetzte Position diese Themen betreffend. Die beiden Kräfte ergänzen sich. ... Die AfD ist gekommen, um zu bleiben. Die Grünen müssen ihr Elektorat noch ausbauen, um eine Alternative zur AfD, aber auch zur CDU und zur SPD darstellen zu können.“
Nachfolger mit gleichem Talent gesucht
Merkels potentieller Nachfolger tritt ein schweres Erbe an, meint das Onlineportal Tvnet:
„Obwohl es im Interesse vieler EU-Länder lag, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, hat Merkel dazu beigetragen, sie beizubehalten. Ebenso hat sie seit der aggressiven Präsidentschaft von Trump meisterhaft zwischen atlantischen und europäischen Interessen balanciert. Sie hat auch versucht, das Gleichgewicht im äußerst schwierigen Brexit-Prozess beizubehalten. Einerseits war sie unnachgiebig, andererseits hat sie bekräftigt, dass die EU in Zukunft gute Beziehungen mit Großbritannien wünscht. Die Frage ist, ob der Nachfolger Merkels auch ihr tolles diplomatisches Talent haben wird, das unbezahlbar war, wenn es darum ging, die Emotionen der Europäer zu beruhigen.“
In der Zwickmühle zwischen Grünen und AfD
Auf der Suche nach einem neuen CDU-Vorsitzenden geht es nicht nur um Namen, sondern vor allem um eine Korrektur der Parteilinie, konstatiert Lidové noviny:
„Unter Merkel wandelte sich die CDU von einer liberal-konservativen zu einer Partei der Mitte, wenn nicht sogar zu einer der linken Mitte. Wie sehr das zum Schwund von Wählern beigetragen hat, ist nicht eindeutig zu beantworten. In Hessen verlor die Partei einen ähnlichen Anteil an die Grünen wie an die AfD. Wer Merkels Linie folgen will, riskiert ein weiteres Anwachsen der AfD. Wer sie ändern möchte, einen weiteren Aufschwung der Grünen.“
Post-Merkel-Ära wird ungemütlicher
Dass Angela Merkel ein Gegengewicht zum erstarkenden Nationalismus in Europa war, glaubt Politologe Valentin Naumescu in einem Beitrag für Contributors:
„Für Rumänien und die EU-Peripherie verheißt ein neuer Ton in der Berliner Politik wahrscheinlich nichts Gutes. In einer neuen Ära des Nationalismus und Protektionismus in Europa tragen die großen Volkswirtschaften weniger zum europäischen Projekt bei. Die Mobilität der Menschen wird drastisch eingeschränkt und es gibt weniger Möglichkeiten für Karriere, Studium und Geschäft. ... Und je mehr das supranationale Entscheidungsniveau in Brüssel zugunsten nationaler Regierungen an Relevanz verliert, desto größer wird die Distanz zwischen entwickelten und weniger wettbewerbsfähigen Staaten und desto mehr beginnen die Starken, den Schwachen zu diktieren.“
Die Populisten lauern schon
Mehr Instabilität in Europa durch Merkels Rückzug fürchtet Revista 22:
„Die Frage ist, ob Merkel weiter in der Lage sein wird, ihren Standpunkt auf europäischer Ebene durchzusetzen, oder ob die Kanzlerin auf Rückzug schaltet und Deutschland nun vom Rest der EU-Mitglieder ignoriert wird. Hier geht es um sensible Fragen wie die Steuer- und Haushaltspolitik, mit Italien im Fokus, es geht um Einwanderungspolitik, um den Bruch zwischen West und Ost und andere schwerwiegende europäische Themen. Die Berliner Positionen wurden angefochten, manche sogar virulent. Italien ist hier das jüngste Beispiel, doch gab es zumindest eine gewisse Kohärenz und Vorhersehbarkeit. Mit einem von innerer Unrast geschwächten Deutschland besteht das Risiko, das die europäische Vorhersehbarkeit verschwindet - sehr zur Freude populistischer Bewegungen, die in unruhigen Gewässern fischen.“
Kanzlerin hatte ein Herz für Polen
Der Abschied Angela Merkels aus der Politik schmerzt Polen ganz besonders, kommentiert Polityka:
„Angela Merkel ist die vielleicht letzte deutsche Regierungschefin, die deutlich positiv gegenüber Polen eingestellt ist. Die Kanzlerin hat eine teils polnische Abstammung, woran sie selbst oft und gerne erinnert. Ihr Großvater väterlicherseits hieß Ludwik Kazimierczak, er war Polizeibeamter und ein Mitglied der Legionen, die sich [im 1. Weltkrieg] an der Unabhängigkeitsbewegung beteiligten. Merkel wuchs in Ostdeutschland auf, verbrachte dort ihre Jugend und blickte, wie viele Kritiker der kommunistischen Regierung, mit Bewunderung auf die polnische Solidarność-Bewegung. Die Kanzlerin gehört zu einer kleinen, schrumpfenden Gruppe von Deutschen, die der Meinung sind, dass sie in der Schuld der Solidarność stehen, ohne die - wie sie sagen - es die deutsche Wiedervereinigung nicht gegeben hätte.“
Abschied von einer kalten Managerin
Das rechtsnationale, regierungsnahe Portal 888.hu freut sich über den bevorstehenden Rückzug Merkels:
„Ende. Die Bundesstute verabschiedet sich, zuerst als Parteivorsitzende und dann auch als Kanzlerin. ... Mit ihr verschwinden auch die Träume der Progressiven von ihrem Mitteleuropa. Die deutsche Kanzlerin ist einen Marathon gelaufen und das ist auf jeden Fall Anerkennung wert, doch am Ende ist sie müde geworden. Dabei hätte sie selbstverständlich noch großartige Pläne für Europa gehabt, so großartige Pläne, wie sie nur ein germanischer Anführer haben kann. Das Lager der Progressiven liebte Mutti wie hypnotisiert. Vor allem, weil sie so eine leidenschaftslose, eiskalte Managerin war, eine Frau der Verhandlung.“
Was wir am meisten vermissen werden
Der angekündigte Abschied von Merkel ist ein herber Verlust für Europa, bedauert De Volkskrant:
„Es sieht danach aus, dass die Kanzlerdämmerung unvermeidlich die Rolle beeinträchtigen wird, die Deutschland unter Merkel in Europa spielte. Gerade jetzt, da der Brexit näher rückt, kann die EU kaum ohne die Ruhe und Erfahrung Merkels auskommen. Längst nicht jeder hatte ihrem Beschluss zugestimmt, unter dem Motto 'Wir schaffen das' die Tore für den Flüchtlingsstrom aus Syrien zu öffnen. Doch Merkels moralischer Kompass war über jeden Zweifel erhaben. Was Europa an Merkel vor allem vermissen wird, wenn sie nun langsam von der Bühne verschwindet, ist, dass sie angesichts der undemokratischen Kräfte, die in der Welt vorrücken, als Gegengewicht dient.“
Gegenwind aus anderen Staaten wird zunehmen
Dass Merkel zum Ende ihrer Amtszeit Europa noch einmal neuen Schwung geben kann, bezweifelt der Deutschlandfunk:
„Ganz im Gegenteil: Ohne Parteivorsitz hat sie keinerlei Rückendeckung mehr dafür. Und das spüren die anderen 27 Staats- und Regierungschefs in der EU natürlich. Und sie werden sich darauf einstellen. Orban, Salvini und Co. werden noch deutlicher auf Stur schalten in der Migrationspolitik und darauf setzen, dass Merkels Nachfolger im Kanzleramt das Konzept einer EU-weiten Flüchtlingsverteilung endlich abräumt. Die Nordeuropäer und Balten werden in Sachen Eurozonenreform noch zögerlicher, weil sie hoffen, dass Merkels Nachfolger das Projekt von jeder Risikoteilung befreit. Nein, Angela Merkels Einfluss in der EU ist mit dem gestrigen Tag massiv geschrumpft.“
Keine proeuropäischen Anführer in Sicht
Mit Merkel verliert die EU eine entscheidende Führungskraft, bedauert Novi list:
„Europa steht vor großen Aufgaben wie der Finalisierung des Brexit. Indes kündigen Wirtschaftsexperten schon die nächste Krise an. Auch außenpolitisch gibt es Herausforderungen, wie die Beziehungen zu Putin und Trump, die das gemeinsame Interesse am Zerfall der EU verbindet. Deshalb ist der Abgang von Merkel eine schlechte Nachricht für Europa, das mehr denn je entschlossene und zugleich gemäßigte Anführer braucht. Ohne starke und proeuropäische Anführer in Berlin und Paris steht es schlecht um Europa und dies in einem Moment, wo immer mehr europäische Länder in die Hände von Rechtsradikalen und Populisten fallen.“
Nachfolger wird weniger glaubwürdig sein
Dass Merkels Nachfolger im Kanzleramt weniger proeuropäisch sein wird, glaubt auch Rzeczpospolita:
„Der nächste deutsche Kanzler wird weder die Erfahrung noch die Glaubwürdigkeit von Merkel haben. Jeder Anführer dieses größten EU-Landes wird natürlich die Politik der 28 und bald 27 beeinflussen. Aber es ist möglich, dass Europa für ihn nicht den gleichen Wert haben wird wie für Merkel und ihre Generation in der CDU. Vielleicht wird ihm auch Merkels Fähigkeit zur Mäßigung fehlen. In einer Zeit, in der die Europäische Union Gefahr läuft, auseinanderzubrechen (z.B. durch Faktoren wie den Brexit, Populismus oder Migration), ist dies eine schlechte Nachricht.“
Zu lange nur kühl gelächelt
Als wenig glanzvoll bezeichnet Eric Bonse die Bilanz von Merkels Europapolitik auf seinem Blog Lost in Europe:
„Erst ließ sie Griechenland hängen, als das Land in Schieflage geriet. Dann zwang sie Spanien unter den Euro-Rettungsschirm - und setzte unnötig harte Austeritätsprogramme durch, die großes Leid angerichtet haben. Gleichzeitig schaute Merkel beharrlich weg, als immer mehr Flüchtlinge übers Mittelmeer nach Spanien, Italien und Griechenland kamen. Ex-Kommissionschef Barroso weinte, Merkel lächelte kühl. Erst als die Krise 2015 nach Deutschland herüber schwappte, beschwor die Kanzlerin plötzlich eine 'europäische Lösung' - die sie in ihrem schmutzigen Deal mit Sultan Erdoğan dann gleich wieder verriet.“
Kohl war ein viel größerer Kämpfer für die EU
Angela Merkels Europapolitik war von Zaudern und Zurückhaltung geprägt, findet hingegen The Irish Independent:
„Viele Diplomaten in Brüssel würdigen Merkels grundsätzliches Bekenntnis zur EU. Doch es ist klar geworden, dass ihre Begeisterung für das Projekt in keinster Weise an jene heranreichte, die von ihrem Vorgänger Helmut Kohl gezeigt wurde. Er war der Letzte einer Generation von politischen Führern, die noch bittere persönliche Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg mitbrachten. Merkels zurückhaltende Rolle in der Krise der Eurozone wurde oft scharf kritisiert. ... Und doch entsprach sie der tendenziell sparsameren und vorsichtigeren Lebensvorstellung der Deutschen - und das ist zumindest ein Grund, warum ihr die Wähler über vier Legislaturperioden die Treue hielten.“