Was offenbart die Wut der Gelbwesten?
Nach dem Anschlag in Straßburg haben französische Politiker an die Gelbwesten appelliert, ihre Proteste einzustellen. Die Bewegung zeigt sich jedoch fest entschlossen und will auch an diesem Samstag demonstrieren. Der Blick in Europas Presse legt nahe, dass ihr Unmut auch deshalb so schnell nicht verfliegt, weil er ein Symptom ist für schwerwiegende soziale Disparitäten in Europa.
Die Gewinner leben in einem Paralleluniversum
Das Handelsblatt sieht hinter den vielen Konflikten in Europa mehr oder weniger dasselbe Grundproblem:
„[V]on London über Paris und Rom bis nach Berlin [geht] ein Riss quer durch Europa ... Ein Riss zwischen boomenden Metropolen und der abgehängten Provinz. Ein Riss zwischen gut verdienenden Wissensarbeitern und Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen. ... Die Lebenswelten von Gewinnern und Verlierern berühren sich kaum noch. … Es bedarf vieler Schritte, von der Förderung strukturschwacher Regionen über eine kluge Technologiepolitik bis hin zu vermehrten Angeboten für lebenslanges Lernen, um unsere Gesellschaften zusammenzuhalten. All das wird jedoch nicht reichen, wenn unsere gut situierten Eliten weiterhin in einem Paralleluniversum leben, das mit der Lebenswirklichkeit vieler Menschen kaum etwas gemein hat.“
Le-Pen-Populismus hätte Warnzeichen sein sollen
Auch die Wochenzeitung Newsweek Polska sieht Parallelen zwischen Frankreich und anderen wohlhabenden westlichen Ländern:
„Überall sind breite Bevölkerungsgruppen der Meinung, dass die soziale Sicherheit und der relative Wohlstand, die sie früher für selbstverständlich hielten, immer unerreichbarer werden. Das weckt Wut, auf deren Grundlage die populistische Politik von Trump, von Lega Nord und Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, der Alternative für Deutschland oder des Brexits perfekt gedeihen kann. Macrons Sieg sollte beweisen, dass Frankreich gegen ähnliche Bedrohungen resistent ist. Der Le-Pen-Populismus war jedoch ein Symptom für tiefere, strukturelle Probleme. … Macrons Lager, im Siegestaumel, tat ein Jahr lang so, als gäbe es sie nicht. Jetzt, zumindest vorübergehend, geht dies nicht mehr.“
Mittelschicht in Aufruhr
Ebenso glaubt Daily Sabah, dass es die Perspektivlosigkeit der Mittelschicht ist, die die Demokratien des Kontinents gefährdet:
„Der wahrgenommene Verlust von Souveränität drängt die Europäer Richtung Nationalismus. Werden sie sich weiterhin unter einer europäischen Identität vereinen wollen? Welche Art von Regime werden Demokratien mit aufgewühlten Mittelschichten hervorbringen? ... Die aktuelle Krise ist nicht allein Macrons Problem. Alle Demokratien müssen sich ernsthaften Turbulenzen stellen, und Versuche mancher Regierungen, sich gegenseitig zu untergraben, machen die Lage nur noch schlimmer.“
Berechtigter Zorn kocht immer wieder hoch
Die Wut der Gelbwesten hat gute Gründe, erinnert Cumhuriyet:
„Das Volk ist mit Recht wütend, dass es für die von neoliberaler Politik ausgelösten Krisen zahlen muss. Und es ist höchst bedenklich, diese Reaktion als faschistische Gesinnung oder Vandalismus abzutun. ... Wird die Gelbwesten-Bewegung unterdrückt und werden ihre Forderungen unter den Teppich gekehrt, ohne echte Lösungen für die strukturellen Probleme zu finden, kommt der Protest in anderer Form wieder hoch. Solange ungerechte Einkommensverteilung, Arbeitslosigkeit, Umweltprobleme, Klimawandel, Migration, Flüchtlingsströme und die digitale Kluft nicht angegangen werden, werden die Ankündigung von Steuererleichterungen für Reiche, die Aufhebung des Kündigungsschutzes und falsche Privatisierungen ohne öffentlichen Nutzen stets ähnliche Reaktionen hervorrufen.“
Gleichheit und Brüderlichkeit sind passé
Gewalt gegen die Demonstranten macht die Lage nur gefährlicher, warnt Diena:
„Die Unterdrückung der Proteste der Gelbwesten verhindert weder soziale Ungerechtigkeit noch den Untergang des Sozialstaats. Sie ändert nichts an der Tatsache, dass in Frankreich von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit allein die Freiheit übrig geblieben ist. Das ist eine schlechte Nachricht. Und zwar nicht nur für Frankreich, sondern für ganz Europa. Denn einerseits wird Frankreichs Rolle im vereinten Europa in Frage gestellt. Andererseits wird Macrons nächster Schritt in Richtung eines kapitalistischen Ultraliberalismus zu noch stürmischeren Protesten führen. Und eher früher als später wird es Nachahmer in anderen Ländern geben.“
Frankreichs Krise kann ansteckend sein
Die Ungeduld der Gelbwesten mit ihrer Regierung ist symptomatisch für die heutige Zeit, bemerkt der aus Rumänien stammende und in Paris lebende Autor Matei Visniec in Dilema Veche:
„Auf unseren Planeten geschieht etwas Eigenartiges, einschließlich im prosperierenden Raum, in dem die Demokratie funktioniert: ... Die Konsumgesellschaft mit ihrem Überfluss an Bildern und 'Erfolgsmustern' wird für den Menschen zunehmend giftig. ... Nichts hat mehr einen Wert, wenn es nicht jetzt und sofort geschieht. Es bleibt zu hoffen, dass das Phänomen der 'Gelbwesten' ein typisch französischer Zwischenfall bleibt. Frankreich war in den vergangenen drei Jahrhunderten Europameister der Demonstrationen, Revolten und Revolutionen. Europa braucht aber ein Frankreich, das seine Krisen in Ruhe löst, bevor das Fieber ansteckend wird.“
Das alte Europa verschwindet
Der Protest der Gelbwesten muss im Zusammenhang mit einem politischen Umbruch in Europa gesehen werden, analysiert der Politologe Ilija Kussa in Fokus:
„Deutschland, Spanien und Frankreich gehören zu den letzten Bollwerken der alten traditionellen Eliten in Westeuropa. Vorerst bleiben sie es. Die 'Treibstoffproteste' in Paris sollte man in Zusammenhang mit zwei weiteren Vorgängen in dieser Woche betrachten: den Regional- und Kommunalwahlen in Spanien und der Wahl eines neuen CDU-Vorsitzenden in Deutschland. ... Unabhängig vom Ausgang des Kampfes zwischen altem und neuem Europa werden wir ein schrittweises Absterben des gewohnten politischen Umfelds beobachten. Die Wahlen zum Europaparlament im kommenden Jahr werden diesbezüglich bezeichnend sein.“
Scheinheilige Imitation in Ungarn
In Ungarn haben sich drei Politiker der Sozialistischen Partei (MSZP) in Warnwesten fotografieren lassen. Publizist Robert Puzsér findet das auf Mandiner völlig unpassend:
„In Frankreich stecken diese Gelbwesten Autos in Brand und haben Polizeistationen angegriffen, weil sie von den Lügen der Elite genug haben. Sie haben genug davon, dass sie immer ärmer werden, während die Reichen immer reicher werden. Ich möchte darauf hinweisen, dass diese drei sozialistischen Politiker in Ungarn genau das verkörpern, was Emmanuel Macron in Frankreich symbolisiert: die vom Neoliberalismus aufgekaufte Politik. Sie sind das Gesicht der MSZP, die seit der politischen Wende jeden Tag für die Profitmaximierung der multinationalen Konzerne und die Ausbeutung der ungarischen Gesellschaft streitet.“
Finnland ist keine Insel der Glückseligen
Auch wenn Gewaltexzesse wie in Paris in Finnland undenkbar erscheinen, ist der gesellschaftliche Frieden auch dort keine Selbstverständlichkeit, warnt Kaleva:
„Finnland begeht seinen Unabhängigkeitstag heute in einer Situation, in der Geschehnisse wie in Frankreich unmöglich erscheinen. Schon immer war hier die Schwelle zu öffentlichen Protesten hoch. … Dennoch gibt es auch in Finnland Dinge, die zu Verbitterung führen. Und wenn sich genug aufgestaut hat, könnte diese Verbitterung auch hervorbrechen. Es gibt weiterhin eine große Gruppe von Ausgegrenzten, mehr als 200.000 Menschen - Arbeitslose, Familien, Rentner -, die in echter Armut leben. Zum Aufbau einer intakten, sicheren Gesellschaft gehört immer auch die Fürsorge für die Schwächsten.“
Serbien staunt
In Serbien schlucken die Bürger viel mehr als in Frankreich, findet Danas:
„Vom hügeligen Balkan aus betrachtet, geschehen in Frankreich und vielen Teilen des entwickelten Europa sehr interessante Dinge. Die Bürger, die mit ihrer sozialen Lage und der politischen Elite unzufrieden sind, gehen auf die Barrikaden oder werden gerade aufgeweckt. Traditionell sind die Franzosen die lautesten. Das ist von der Revolution der französischen Bourgeoisie, über 1968 bis heute so geblieben. Was haben wir alles überlebt? Wir überleben und ertragen alles. Die reichen Europäer kritisieren, protestieren und streiken. ... Und bei uns? Es gibt unzufriedene und wütende Bürger, aber keine Proteste. Serbien, so die Regierung, macht wirtschaftlich Fortschritte, warum sollte man da auch protestieren?“