Warum wird Venezuela zum internationalen Konflikt?
Mehrere EU-Staaten haben dem venezolanischen Präsidenten Maduro ein Ultimatum von acht Tagen gestellt, um eine Neuwahl auszurufen. Die USA und viele lateinamerikanische Länder hatten zuvor den selbsternannten Interimsstaatschef Guaidó anerkannt. Kommentatoren beschäftigen sich insbesondere mit den Beweggründen Russlands und der Nachbarstaaten Venezuelas, sich in diesem Konflikt zu positionieren.
Putins Ängste
In Obozrevatel erklärt Swjatoslaw Batow, Koordinator eines Projekts des ukrainischen Informationsministeriums zur Eindämmung von Falschnachrichten, dass Putin sich für Maduro einsetzt, weil er Konkurrenz auf dem Ölmarkt fürchtet:
„Venezuela steht weltweit an der Spitze der nachgewiesenen Ölreserven. Bei einer Bevölkerung von 30 Millionen würden die Menschen, wenn sie eine solide Staatsführung hätten, nicht schlechter leben als die Bevölkerung anderer Ölstaaten. Derzeit fördert Venezuela vier- bis fünfmal weniger als Russland. Und dies, obwohl es vier- bis fünfmal mehr Ölvorräte als Russland hat. Stellen Sie sich vor, rechte Kapitalisten oder zumindest Zentristen kämen in Venezuela an die Macht, würden der Privatwirtschaft Rechte einräumen und Investoren ins Land holen. ... Was wäre dann mit der russischen Wirtschaft? Sie würde sterben oder zumindest einen starken Niedergang erleben.“
Südamerika droht rechter Backlash
Dass in Venezuela gerade jetzt die Machtfrage gestellt wird, liegt am allgemeinen Rechtsruck in der Region, glaubt der Südamerika-Korrespondent des Handelsblatts, Alexander Busch:
„Nach Chile, Argentinien und Kolumbien ist jetzt vor allem in Brasilien mit dem Rechtspopulisten Jair Bolsonaro eine rechtskonservative Regierung an die Macht gekommen. Brasilien arbeitet aktiv mit den USA und der konservativen Lima-Gruppe Lateinamerikas zusammen, um Maduro abzulösen. Zwar ist es durchaus zu begrüßen, dass Brasilien jetzt endlich mit klaren Worten die Diktatur in Venezuela kritisiert. Doch mit der bedingungslosen Unterstützung Guaidós besteht jetzt das Risiko eines konservativen Backlash - also der Rückkehr zu den politischen Verhältnissen der Vergangenheit, als die USA mit Verbündeten in der Region linke Regierungen bekämpften und rechte Regimes förderten.“
Wie in alten Zeiten
Die Welt teilt sich wie zu Zeiten des Kalten Krieges in zwei Lager, beobachtet Večernji list:
„Russland, China und Kuba unterstützen die Regierung des linken Diktators und Präsidenten Nicolas Maduro, während die USA, Kanada, viele südamerikanische Staaten (Brasilien, Argentinien, Chile, Kolumbien, Peru) auf gewisse Weise den Parlamentspräsidenten Juan Guaidó unterstützen, der sich selbst zum Interims-Staatsschef bis zu Neuwahlen erklärt hat. Der Westen verlangt demokratische Neuwahlen in Venezuela, während der Osten Maduro als Sieger der Wahlen anerkennt, die eine Farce waren. Es war den wahren oppositionellen Kandidaten verboten, gegen Maduro anzutreten. Die Opposition boykottierte die Wahl, weshalb nur 46 Prozent der Wähler abstimmten und natürlich Maduro wählten.“
Nur Verhandlungen bringen Frieden
Für Diena kann es nicht darum gehen, dass sich in Venezuela eine Seite durchsetzt:
„Wer auch immer formal gewinnen wird, er wird es höchstwahrscheinlich nicht schaffen, die Ordnung im Land wiederherzustellen. Denn das jeweils andere Lager greift in Lateinamerika traditionell auf die Methoden eines Zivil- und Partisanenkriegs zurück und würde noch größere Probleme für Venezuela und seine Nachbarländer schaffen. Mit so einem Szenario rechnen auch die USA, und kalkulieren auch eine militärische Intervention in Venezuela ein. Die einzig akzeptable Lösung für Venezuela wäre, beide Seiten an einen Verhandlungstisch zu bringen, damit man sich auf eine Wahl, die für alle annehmbar ist, einigen kann.“
Volle Unterstützung für die Opposition
Der Westen muss sich klar und geschlossen hinter Juan Guaidó stellen, fordert The Economist:
„Amerika und die EU sollten alle ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nutzen, um einen friedlichen Wandel zu fördern, indem sie die Parallelregierung von Juan Guaidó stärken. Das könnte beinhalten, Teile der Bezahlung für Ölimporte [aus Venezuela] auf einem Konto zu hinterlegen, auf das nur die Nationalversammlung Zugriff hat. Zudem könnten weitere Sanktionen angedroht werden, um Angehörige des Regimes zum Überlaufen zu bewegen. Die Unterstützung der Lima-Gruppe [mit den meisten lateinamerikanischen Staaten] wird dazu beitragen, Maduros spöttischen Vorwurf zu widerlegen, Guaidó sei nur ein Handlanger der USA. Wenn Maduros verhasstes Regime schließlich fällt, wird Venezuela massive internationale Unterstützung brauchen - in Form von Krediten, humanitärer, wirtschaftlicher und politischer Hilfe.“
Trump führt internationale Intrige an
Journalist Murat Yetkin kritisiert hingegen auf seinem Blog Yetkin Report jegliche Einmischung von außen:
„Der Schritt des US-Präsidenten ist nicht bloß eine historisch einmalige Art von Putsch, er trägt die Spuren einer internationalen Intrige: nur wenige Stunden nach der Entscheidung der USA wurde Guaidó auch von Kanada und Venezuelas Nachbarn Brasilien und Kolumbien anerkannt. Medien zufolge haben beide Länder in den vergangenen Wochen an ihren Grenzen zu Venezuela Truppen aufgestellt; das deutet an, dass es zu einem offenen Gefecht oder sogar einer Besetzung kommen könnte. ... Natürlich will ich nicht die Autokratie des unfähigen Maduro verteidigen, der auf einem der größten Ölfelder der Welt sitzt und das Volk in wirtschaftliche Schwierigkeiten bringt. .. Aber das zu ändern, also dem Land Demokratie zu bringen, ist nicht die Aufgabe von Trump oder einer anderen Macht.“
Alles läuft nach altbekanntem Muster
Für Iswestija ist klar, welche Rolle die USA in dem Konflikt spielen:
„Anfang dieser Woche gab es den Versuch eines Militärputsches. Der Aufstand eines Häufchens Soldaten wurde schnell niedergeschlagen. Doch das war nur das Startsignal für seriösere Aktionen. Es folgten Massenunruhen und Zusammenstöße mit der Polizei in Caracas und anderen Städten. Diesen Aufstand führte der Vorsitzende des aufgelösten oppositionellen Parlaments Juan Guaidó an, der sich zum Interims-Staatschef des Landes ausrief. Seine 'Legitimität' wurde von den USA umgehend anerkannt, sofort folgten eine Reihe ihrer Satelliten in Lateinamerika. ... Die Kunst der Amerikaner liegt darin, dass sie in einem Land erst eine Finanz- und Wirtschaftskrise provozieren und die Bevölkerung an den Rand des Elends und folgerichtig in die Unzufriedenheit treiben. Alles Weitere ist eine Frage der Technik.“
Zurückhaltung der EU verständlich
Warum die EU sich schwertut, den selbsternannten Übergangspräsidenten anzuerkennen, analysiert Trud:
„[EU-Außenbeauftragte Federica] Mogherini hat zwar die Präsidentenwahl im letzten Jahr nicht anerkannt und die Nationalversammlung als einzige demokratische Institution in Venezuela bezeichnet, doch in ihrer Erklärung zur aktuellen Lage unterstützte sie in keiner Weise Guaidó als Übergangspräsidenten. ... Die Ausarbeitung einer gemeinsamen Position der EU zu den Ereignissen in Venezuela braucht Zeit und eine ernsthafte Prüfung der Fakten. Die EU tut sich schwer damit, die Selbsternennung Juan Guaidós zu unterstützen, weil er zum Staatsstreich aufruft und sich eigenständig an die Spitze des Staats stellt, ohne dass die Verfassung ihm das Recht dazu gibt. Dies steht im Widerspruch mit internationalem Recht und den Grundfesten der Demokratie.“
Blutbad oder Resignation
Wie der Machtkampf in Venezuela ausgeht, ist völlig offen, betont Uta Thofern, Leiterin der Lateinamerika-Redaktion der Deutschen Welle, in einem Kommentar auf dem brasilianischen Nachrichtenportal Terra:
„Alles ist jetzt möglich im ärmsten reichen Land der Welt. Ein weiterer 'arabischer Frühling' mit allen bekannten Konsequenzen. Ein Blutbad. Oder die Verhaftung von Guaidó, ein Ende der Demonstrationen und ein Rückfall in die quälende Resignation der vergangenen Monate. ... Guaidós öffentliche Selbstausrufung zum Präsidenten ist mehr als riskant. ... Insbesondere die demonstrative Unterstützung aus den USA ist ein zweischneidiges Schwert. Jede Hilfe aus den USA liefert den chavistischen Hardlinern um Maduro neue Argumente und nährt die Legende, dass Venezuelas Misere nur einem US-geführten 'Wirtschaftskrieg' geschuldet sei.“
Armee entscheidet über Maduros Schicksal
Auf die Haltung des Militärs kommt es jetzt an, erklärt der Lateinamerika-Experte von NRC Handelsblad, Merijn de Waal:
„Im Machtblock von Maduro zeigen sich Risse. ... Mehrere Spitzen-Offiziere brachen bereits mit dem Regime, oft durch Flucht ins Ausland. ... In den unteren Rängen zeigt sich die Unzufriedenheit in der zunehmenden Zahl der Desertationen. ... Zugleich aber glauben sogar Ex-Offiziere im Exil kurzfristig nicht an einen Militärputsch. Die heutige Armee-Spitze, so sagen sie, kann in Maduros räuberischem Regime so gut verdienen, dass sie den Präsidenten nur im äußersten Notfall in ein Flugzeug, etwa nach Havanna, setzen würde. Das weiß auch die Opposition. Nachdem die Regierung 2014 und Ende 2017 Ausbrüche der Volkswut mit tödlicher Gewalt niederschlug, hofft sie nun aber, dass die Armee sich zumindest raushalten wird.“
Amnestie für Militärs der richtige Weg
Die Süddeutsche Zeitung sieht drei Möglichkeiten für einen Regimewechsel:
„Der vermutlich schnellste Weg wäre eine Invasion, angeführt von den USA, mit Unterstützung von Brasilien. Das wäre der schlechteste Weg. Die instabile Region kann keinen Krieg mit unabsehbaren Folgen gebrauchen. Der zweite Weg wäre eine Verhandlungslösung, die Maduro und seiner kriminellen Entourage einen geordneten Rückzug ermöglicht. Das wäre die beste Variante, aber es ist auch die unwahrscheinlichste. Bleibt der dritte Weg. Guaidó hat dem Militär, das bislang treu zu Maduro steht, eine Amnestie in Aussicht gestellt - falls es die Seiten wechselt. Das ist die erfolgversprechendste Strategie. Wenn Regimegegner nicht mehr zusammengeknüppelt werden, dürfte das Land eine Protestwelle erleben, die Maduro wohl nicht überstehen würde.“
Warum Trump mitmischt
Venezuela ist eine willkommene Ablenkung für Trump, aber wenigstens steht er diesmal auf der richtigen Seite, findet USA-Korrespondent Vittorio Zucconi in La Repubblica:
„Um der 'Shutdown'-Falle sowie dem langsamen und unerbittlichen Fortgang der juristischen Ermittlungen zu entkommen, setzt Präsident Donald Trump seinen Fuß in die menschliche und politische Katastrophe namens Venezuela und erkennt Oppositionsführer Juan Guaidó als legitimen Interimspräsidenten an. ... Welche konkreten Ziele und Aktionen er dabei verfolgt, das verraten natürlich weder Trump, noch seine Hauptberaterin, Tochter Ivanka, die den Schlachtruf des Vaters per Twitter sofort an die Venezolaner weitergab. ... Aber zumindest diesmal gibt es eine einstimmige Verurteilung Maduros und der Katastrophe einer Nation mit dreißig Millionen Menschen, die Hunger leiden.“
Anerkennung nicht auf die lange Bank schieben
Auch Spanien und die EU sollten Guaidó so schnell wie möglich anerkennen, drängt ABC:
„Die Proklamation bedeutet das Ende eines totalitären, korrupten und perversen Regimes, das vor fast zwei Jahrzehnten vom brillianten Militär Hugo Chávez gegründet wurde und das dann ein völlig unfähiger Nichtsnutz namens Maduro weiterführen wollte. ... Die Anerkennung von Guaidó als Übergangspräsident durch die USA, Kolumbien, Kanada, Brasilien, die [Organisation Amerikanischer Staaten] OAS und einer wachsenden Liste an Ländern lässt keinen Zweifel an der allgemeinen Haltung der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber Venezuela. Die Entscheidung der EU wird vermutlich nach einer Reihe von Absprachen zwischen den Hauptstädten fallen. Es wäre peinlich, wenn Spanien nicht zu den ersten Ländern in der Liste gehören würde.“