Paris zieht Botschafter aus Rom ab
Nach einem Treffen des italienischen Vizepremiers Di Maio mit Gelbwesten hat Frankreich seinen Botschafter aus Rom abgezogen. Damit erreicht der bilaterale Konflikt eine neue Eskalationsstufe. Die Presse verdeutlicht, warum der Streit weit über die Grenzen der beiden Länder hinausgeht.
Eine Frage der europäischen Wirtschaft
Europas wachsende soziale Ungleichheit ist die eigentliche Ursache für den Streit, warnt The Independent:
„Hier geht es wirklich nicht nur um Italien und Frankreich. Es geht darum, dass es der europäischen Wirtschaft nicht gelingt, die Lebensstandards für eine große Zahl der Bürger zu erhöhen - ob dem tatsächlich so ist oder nur ein entsprechender Eindruck vorherrscht, spielt dabei keine Rolle. Italien ist besonders betroffen, denn die Lebensbedingungen haben sich in den vergangenen 20 Jahren kaum verbessert. Dass sich auch in Frankreich viele benachteiligt fühlen, erklärt die Anziehungskraft der Gelbwesten. ... Wird Europas Wirtschaft nicht dynamischer, werden die Proteste eskalieren. Deshalb sind neue Hinweise auf eine wirtschaftliche Flaute für die EU-Eliten so besorgniserregend.“
In diplomatischer Krise fallen die Masken
Die außenpolitischen Beziehungen entlarven die italienischen Regierungsparteien als Saboteure des europäischen Projekts, kommentiert Ouest France:
„Ein wahrer Souverän, der sich ständig auf das Volk beruft, reist nicht nach Moskau, um dort Unterstützung zu suchen, wie es Lega und M5S (und andere) tun. Man betreibt auch keinen Wahlkampf im Nachbarland - Frankreich in diesem Fall. Den beiden Gelegenheitspartnern geht es nicht um ein europäisches, sondern um ein europaweites Projekt: Durch die Flucht nach vorne in ständige Spannungen wollen sie das bestehende Gefüge destabilisieren. ... Dem nun von Paris offiziell bestätigten diplomatischen Eklat ist zumindest zu verdanken, dass die Masken fallen und dass Rom klargemacht wird, dass sich niemand täuschen lässt.“
Im Streit zwischen Rom und Paris siegt Europa
Letztlich profitiert Europa vom diplomatischen Konflikt zwischen Paris und Rom, glaubt der Professor für EU-Recht, Alberto Alemanno, in der europäischen Ausgabe von Politico:
„Die Kraftprobe sollte nicht nur als explosiver Ausrutscher verstanden werden, sondern auch als Beweis einer Europäisierung des politischen Diskursraums. Im Kern ist dies eine positive Entwicklung: Nationale Parteien suchen auf dem Kontinent Verbündete, um ihre Europa-Projekte zu verwirklichen. ... Wenn die politischen Kampagnen vor der Europawahl in den kommenden Monaten an Fahrt aufnehmen, wird sich dieser Trend beschleunigen und intensivieren. Europa sollte vor diesem Bruch nicht zurückschrecken. Diese Veränderung des politischen Diskurses könnte die EU von den Ketten befreien, die zu lange den Fortschritt blockierten.“
Öffentlicher Diskurs in Europa verroht
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung ist entsetzt:
„Es ist schon beängstigend, mit welcher Geschwindigkeit in der EU die Grenzen der demokratischen Kultur getestet werden, auf der bisher der Frieden und Wohlstand Europas beruhten. Die Krawallmacher von links und rechts haben es geschafft, den öffentlichen Diskurs innerhalb von wenigen Jahren zu verrohen, und zwar in und zwischen ihren Ländern. ... Die EU wird mit solchen Konflikten auf absehbare Zeit leben müssen, und das wird mehr schlecht als recht gehen. ... Das Europa Di Maios und Salvinis ist ein Kontinent, dessen Völker einander beschimpfen und beharken, anstatt zusammenzuarbeiten. Das ist in der Geschichte noch nie gutgegangen.“
Rom bricht mit diplomatischen Regeln
Die beiden italienischen Vize-Premiers Di Maio und Salvini haben den Bogen überspannt, findet La Croix:
„Die Verbalattacken brechen mit den diplomatischen Gepflogenheiten. Sie zeigen deutlich, wie sehr die italienischen Regierenden, denen bei ihren widersprüchlichen Vorhaben keine Einigung gelingt, nach einem Ventil suchen. ... Emmanuel Macron hat zwar auch nicht mit Kritik an Italiens [Regierungs-]Experiment gegeizt, die Entscheidung der Italiener hat er jedoch nie in Frage gestellt. ... Frankreich hat seinen Botschafter zu Recht zurückgerufen. Denn die Diplomatie dient in erster Linie dazu, Fronten abzukühlen, und funktioniert nur dann, wenn sie sich auf eine Ethik des Dialogs stützen kann. Indem sie auf Beleidigungen und Ausfälligkeiten setzt, fährt die italienische Regierung einen neuen Kurs.“
Dramaqueen Macron
Macron dramatisiert die Sache unnötig, meint hingegen die Chefredakteurin von Huffington Post Italia, Lucia Annunziata:
„Sicherlich haben unsere Regierenden Macron gegenüber einen rauen Umgangston gewählt und das Treffen von Vizepremier Di Maio mit den Gelbwesten in Paris war ebenfalls ungewöhnlich. Doch es erscheint mir viel überraschender und unerwarteter, dass der französische Präsident jede institutionelle Orientierung verloren hat. Die Dramatisierung des Konflikts mit Italien ist ein weiterer Beweis für Macrons Schwäche. Er hat angesichts des Wandels in der europäischen (und französischen) Landschaft seit einigen Monaten offenbar von seinem Vorhaben Abstand genommen, eine aufgeklärte Leitfigur für die Union zu sein.“
Präsident ist schon im Wahlkampf-Modus
Macron ist nicht ganz unschuldig an der Eskalation, beobachtet De Standaard:
„Paris will Rom deutlich machen, dass Di Maio zu weit gegangen ist und dass dies aufhören muss. Die Gelbwesten sind nun einmal die Achillesferse von Macron. ... So wie Macron eine Lieblings-Zielscheibe ist für die Italiener, so sind die Italiener das für ihn. Er hat das Feuer angefacht. Macron will die europäischen Wahlen einordnen als ultimativen Kampf zwischen pro-europäischen Reformern wie er selbst, und rückständigen Nationalisten und Populisten.“