Estland: Reformpartei gewinnt, Rechte erstarkt
Die liberale Reformpartei hat nach drei Jahren in der Opposition mit knapp 29 Prozent überraschend die Parlamentswahl in Estland gewonnen. Parteichefin Kaja Kallas wird nun wohl die erste Ministerpräsidentin des Landes. Journalisten nehmen aber nicht nur die Wahlsieger unter die Lupe, sondern auch die national-konservative Partei Ekre, die mit knapp 18 Prozent drittstärkste Partei wurde.
Auch Estland ist tief gespalten
Mit dem Erfolg der Rechtspopulisten beschäftigt sich Ilta-Sanomat:
„Der Erfolg von Ekre zeigt, wie tief gespalten Estland ist. Die Partei wird vor allem in kleinen Städten und auf dem Lande gewählt, wo die Menschen das Gefühl haben, dass sie weit hinter dem Wachstum der Hauptstadtregion zurückbleiben. ... Auf EU-Ebene geht Estland zumindest teilweise denselben Weg wie Polen, Ungarn und Italien. Die Unzufriedenheit des Volkes kommt den populistischen Parteien zugute und es dürfte auch schwer sein, das Ergebnis der EU-Wahlen vorherzusagen. Die Spaltung der EU-Mitgliedstaaten scheint weiter zuzunehmen.“
Für Stimmenfang aufs Smartphone setzen
Wie die elektronische Stimmabgabe den Wahlausgang beeinflusst hat, analysiert die Neue Zürcher Zeitung:
„Wie aus Zahlen der zentralen Wahlkommission hervorgeht, vermochte die Reformpartei bei einem allgemeinen Wähleranteil von 29 Prozent volle 40 Prozent der Internet-Stimmen einzuheimsen. Sie verstand es damit am besten, die Wähler wenn nicht an die Urne zu bringen, so sie doch das Smartphone zücken zu lassen. ... In einem Estland mit einer steigenden Zahl von E-Wählern werden sich die politischen Akteure vermehrt der Frage widmen müssen, wie sie die digital vernetzte Bevölkerung besser erreichen. Von den fünf künftig vertretenen Parlamentsparteien hat es nämlich nur die Reformpartei geschafft, diese Stimmenquelle überproportional anzuzapfen.“
Milde als Stärke
Postimees ist beeindruckt von Chefin der Reformpartei, Kaja Kallas:
„Das persönlich sehr starke Ergebnis von Kaja Kallas spricht eine klare Sprache und schafft eine günstige Position für die Koalitionsverhandlungen. Wahlkampf und Parteiführung von Kaja Kallas haben etwas unsicher begonnen, begleitet von parteiinternen Unklarheiten. Heute kann man sagen, dass Kallas sich bewiesen hat und dass das, was man als ihre Schwäche bezeichnete - ein mildes Wesen sowie das Fehlen des Kriegerischen -, sich als Stärke entpuppt hat.“
Was der Regierungsbildung im Weg stehen dürfte
Mit der Koalitionsfrage beschäftigt sich Äripäev:
.„Kallas hat in der Wahlnacht nochmals die Koalition mit der rechtspopulistischen Ekre ausgeschlossen. Jedoch gibt es mehrere Koalitionsmöglichkeiten und die Regierungsbildung dürfte spannend werden. Eine Koalition mit der Zentrumspartei wäre ebenso möglich wie eine mit [der konservativen Partei] Isamaa und den Sozialdemokraten. ... Die Verhandlungen werden bestimmt nicht einfach. Urmas Reinsalu, eine der Leitfiguren von Isamaa, hat vorausgesagt, dass sie zwei Monate dauern werden. Zwischen Reform- und Zentrumspartei steht die Steuerfrage [unterschiedliche Konzepte zu Einkommens- und Alkoholsteuer] wie eine Mauer. Während Isamaa und Sozialdemokraten diejenigen waren, die die Reformpartei 2016 [durch ein Misstrauensvotum gegen ihren Koalitionspartner] verraten haben“
E-Wähler und analoge Wähler ticken nicht gleich
Die digitale Kluft in der Gesellschaft schlägt sich auch in den Wahlpräferenzen nieder, bemerkt Soziologe Juhan Kivirähk im Online-Portal des Estnischen Rundfunks Eesti Rahvusringhääling:
„In den vergangenen Monaten schnitt die Zentrumspartei meist in den persönlichen Befragungen besser ab, während die Reformpartei in den Online-Umfragen führte. … Die Wahrscheinlichkeit, dass die Zentrumspartei gewinnt, ist insgesamt etwas höher. Dabei sind die Differenzen zwischen den e-Wählern und denjenigen, die zum Wahllokal gehen werden, deutlich: Über 30 Prozent der e-Wähler bevorzugen die Reformpartei und nur 18 das Zentrum. Im Wahllokal sieht es umgekehrt aus.“
Diesmal könnte die Wahl anders ausgehen
Die hohe Zahl der abgegebenen elektronischen Stimmen könnte die Wahl entscheiden, erklärt Õhtuleht:
„Bis jetzt hat die Reformpartei bei der e-Wahl immer die Oberhand gehabt. Nun wird es spannend zu sehen, ob sich die Rekordzahl der e-Stimmen gleichmäßiger zwischen den Parteien verteilt. Noch bis vor kurzem hatte die Zentrumspartei eine Einstellung gegenüber der e-Wahl, die von Verschwörungstheorien geprägt war. Wer weiß, vielleicht hätte die Partei schon früher an die Macht kommen können, hätte sie sich mit dieser Einstellung nicht selbst der e-Stimmen beraubt.“