Macron oder AKK: Welches Europa wollen wir?
Zwei Visionen für Europa im Wettstreit: Nach Frankreichs Präsident Macron präsentiert auch Merkels potenzielle Nachfolgerin Annegret Kramp-Karrenbauer ihre Ideen. Journalisten diskutieren, ob ihr Manifest Europa voranbringt.
Berlin geht völlig neuen Weg
Das Manifest ist kein weiter so der deutschen Europapolitik, erklärt Politikwissenschaftler Ulrich Speck in der Neuen Zürcher Zeitung:
„Es geht ... um Selbstbehauptung in einer sich radikal ändernden Welt, in der Europa nicht mehr von einem 'wohlwollenden Hegemon' Amerika von den Stürmen abgeschirmt wird und sich in 'machtgeschützter Innerlichkeit' um soziales und wirtschaftliches Wohlbefinden kümmern kann. ... Mit ihrem Manifest steuert Kramp-Karrenbauer programmatisch auf einen Paradigmenwechsel in der deutschen Europapolitik hin. Sie zieht die Konsequenz aus einer sich grundlegend verändernden geopolitischen Lage. Wenn Europa seine innere liberale Ordnung erhalten will gegen den anbrandenden Nationalismus und die neue Konkurrenz der Großmächte, dann kann es sich nicht mehr bloß nach innen gewandt um die Perfektionierung seiner Institutionen kümmern, es muss sich selbst machtpolitisch neu aufstellen.“
Deutschland muss seine Komfortzone verlassen
Der ganz große Wurf ist das nicht, kritisiert hingegen der frühere deutsche Außenminister Sigmar Gabriel in Le Monde:
„Der Grund dafür dürfte nicht in der Eitelkeit Macrons zu suchen sein, sondern in der erneuten Unwilligkeit - oder Unfähigkeit - der deutschen Politik. Weder Unterstützung noch eigene Initiativen Deutschlands sind zu erkennen. … Frankreich ist im Inneren unruhig und unsicher. Daher sucht die politische Führung nach festem Grund und findet ihn in der Idee eines gestärkten Europas. In Deutschland ist es umgekehrt: zumindest an der politischen und wirtschaftlichen Oberfläche des Landes ist es windstill, auch wenn darunter vieles in Bewegung ist. … Es wäre gut, Deutschland würde seine Komfortzone rechtzeitig verlassen, bevor die Stürme uns ungeschützt erfassen. Gemeinsam mit Frankreich könnten wir Europa wetterfest machen.“
AKKs Europa ist ein Geschenk für Le Pen
Kramp-Karrenbauers Haltung zur EU folgt einer verheerenden Tradition, kritisiert To Ethnos:
„Dies ist eine Leugnung der Realität, da die Zahl der Lehrstücke in den vergangenen Jahren immer weiter gestiegen ist - das beste Beispiel ist Italien, aber auch Frankreich. ... Berlins restriktiv-minimalistische Vision der europäischen Integration, wie sie zwischen 2008 und 2010 begründet wurde, wurde weder durch das Brexit-Referendum noch durch die Niederlage Renzis im Referendum desselben Jahres in Italien erschüttert. Heute lehnt Merkels Nachfolgerin den Vorschlag von Macron ab und ist sich völlig bewusst, dass diejenigen, die von den inneren und europäischen Blockaden des Präsidenten profitieren werden, keine anderen als Le Pen und ihre rechtsextreme Partei Rassemblement National sein werden.“
Panische Angst vor Integration
Für Spiegel Online hat sich gezeigt, wie wenig Kramp-Karrenbauer für Europa übrig hat:
„Der Franzose will mehr Gemeinsamkeiten, die Deutsche kann kaum 'Europa' schreiben, ohne sogleich hinterherzuschieben, dass 'ohne die Nationalstaaten' nichts geht. Macron arbeitet auf eine tatsächliche europäische Integration hin. Kramp-Karrenbauer scheint einen Rückschritt anzustreben: Hin zu einer vor allem wirtschaftlich ausgerichteten Zusammenarbeit mit gemeinsamer, strikter Grenzsicherung. ... Dieser allein auf Wirtschafts- und Sicherheitsinteressen ausgerichtete Ansatz schafft keine europäische Identität, er zielt lediglich auf die vor allem eigennützliche Kooperation von Nationalstaaten. Kramp-Karrenbauer hat allenfalls eine halbherzige Idee von Europa. Im Grunde hat sie also: keine.“
Die nötige Prise Skepsis
Als wichtigen Debattenbeitrag lobt hingegen Financial Times die Zukunftsvision der CDU-Chefin:
„Kramp-Karrenbauers Intervention vermittelt nicht den Eindruck, dass hier die neue Parteiführung von der alten das Zepter übernimmt. Dies ist die Äußerung der christdemokratischen Partei und spiegelt deren Zwiespalt wider: einerseits klar der EU verpflichtet, andererseits skeptisch gegenüber einer weiteren europäischen Integration. Kramp-Karrenbauer spricht als Parteichefin und nicht als Deutschlands führende Politikerin. Trotzdem hat sie eine legitime konservative Vision für Europas Zukunft skizziert, die im Gegensatz zu Emmanuel Macrons radikaleren Thesen steht. Auch sie hat Europa einen Dienst erwiesen.“
Gut, dass Macron Kontra bekommt
Zum Glück lässt sich Kramp-Karrenbauer nicht auf Macrons Gut-gegen-Böse-Spiel ein, kommentiert Jyllands-Posten:
„Kramp-Karrenbauer ist vorbildlich deutlich in ihrer Antwort an Macron, der sich an alle Bürger Europas mit der Aufforderung wendet, die Pro-Europäer mögen zusammenstehen. Die Europawahl ist aus Sicht des Pariser Präsidentenpalasts eine Entscheidung darüber, ob man Europa will oder nicht. ... Diese einseitige Debatte für oder gegen Europa kennen wir aus Dänemark nur allzu gut. Sie hat nichts Gutes gebracht. Erstens hat man die Gegner definieren lassen, worüber gesprochen wurde. Zweitens sahen sich die Befürworter über Jahre genötigt, Dinge zu verteidigen [über die sie zum Teil selbst nicht einig waren]. Für Nuancen war kein Platz. So hat es Generationen gebraucht, bis die Dänen ernsthaft begonnen haben, eine politische Debatte darüber zu führen, was Sinn und Zweck der EU sein soll.“
Niemand übernimmt das Ruder
Und Unbehagen verspürt angesichts der Uneinigkeit Deutschlands und Frankreichs über den künftigen Kurs Europas De Tijd:
„Gut zwei Monate vor der Europawahl funktioniert die deutsch-französische Achse nicht mehr. ... Die bittere Wahrheit ist, dass die europäische Bühne auffällig leer sein wird, wenn das schlechte Theater des Brexit erst einmal vorbei ist. Es grummelt zwar in allen Ecken, aber niemand steht in der Mitte. Im Kampf gegen den Euro-Skeptizismus bezeichnet sich ein Jeder als Europäer. Doch über das Europa der Zukunft gibt es keinen Konsens. Vorläufig dominieren die USA, China und Russland die Initiative in der Geopolitik - etwas, was Frankreich und Deutschland eigentlich nicht wollten. Doch ihre Achse funktioniert nicht mehr.“
Zwei unterschiedliche Visionen
Die Reaktion der CDU-Vorsitzenden auf Macrons Aufruf veranschaulicht die zunehmende Diskrepanz zwischen den beiden Nachbarländern, beobachtet Ludovic Delory, Chefredakteur von Contrepoints:
„Annegret Kramp-Karrenbauer lehnt die Vorschläge ab, die Emmanuel Macron 'im Geiste des Fortschritts' macht: einen europäischen Mindestlohn und eine Vergemeinschaftung der Schulden. … Zweieinhalb Monate vor der Europawahl driften Frankreich und Deutschland offenbar in unterschiedliche Richtungen. Das Nein zu den Hauptvorschlägen Emmanuel Macrons wird es den Wählern zumindest erlauben, zwei verschiedene Europa-Visionen miteinander zu vergleichen: Die eines zentralisierten Landes, das seit Monaten Gewalt und anhaltenden Protesten ausgeliefert ist. Und die eines offenen Landes, das in einem immer übergriffigeren und von seinen Bürgern infrage gestellten Europa unbeirrbar nach Souveränität strebt.“
Endlich will jemand wieder etwas von der EU
Die Tageszeitung Die Welt findet die Antwort Kramp-Karrenbauers überzeugend:
„Tun, was machbar ist, das aber entschlossen: So lässt sich das Europa-Weltbild Kramp-Karrenbauers zusammenfassen. Manches davon ist Gestaltungswille der ersten Stunde. Angela Merkel hat anfangs ähnlich ambitioniert gedacht. Die Realitäten erzwingen dann manchmal Bescheidenheit. Aber mit Annegret Kramp-Karrenbauer will nun endlich wieder jemand das scheinbar Unmögliche - die EU gezielt fortzuentwickeln, statt sich mit einer Larmoyanz aufzuhalten, die unter anderem den Brexit nach sich gezogen hat. Richtig so! ... Käsesorten nach Wettbewerbsgerechtigkeit zu bewerten ist nicht das Ziel der europäischen Geschichte. Die EU braucht klimapolitische, asylrechtliche, militärische und digitaltechnische Kooperation, um mit China, Indien, den USA auf Augenhöhe zu reden.“
Europa ist führungslos wie selten zuvor
Weit und breit ist niemand da, der die EU führen könnte, analysiert Die Presse:
„Kramp-Karrenbauer? Lernt und sucht noch ihre Rolle. Angela Merkel? Hätte nicht mehr genug Unterstützung in den eigenen Reihen geschweige denn in anderen Staatskanzleien. Emmanuel Macron? Ist innenpolitisch angeschlagen und versucht mit europäischen Initiativen abzulenken. Jean-Claude Juncker? Bereitet sich auf den Ruhestand vor. Europas Konservative? Rätseln über ihre Gegenwart und Zukunft mit den neuen alten Rechten wie Ungarns Viktor Orbán. Die Sozialdemokraten? Schnallen sich an und halten den Kopf über den Knien, bevor ihre Maschine aufprallt. Die anderen einst konstruktiven Kräfte? Verzweifeln am bevorstehenden Brexit und/oder fürchten sich vor der wirtschaftlichen Auseinandersetzung mit Donald Trump. Anders formuliert: Die EU ist führungslos wie selten zuvor.“