Bürgermeisterwahl von Istanbul wird wiederholt
Präsident Erdoğan hat die Entscheidung der obersten türkischen Wahlbehörde zur Annullierung der Bürgermeisterwahl von Istanbul als Schritt zur "Stärkung der Demokratie" bezeichnet. Oppositionsanhänger gingen derweil am Dienstag erneut auf die Straßen und ihre Parteien suchen nach einer gemeinsamen Strategie für die Neuwahl. Welche Chancen haben sie?
Imamoğlu könnte Erdoğan vom Sockel stoßen
Der Deutschlandfunk ist beeindruckt, wie sich der Bürgermeisterkandidat der Opposition, Ekrem İmamoğlu, gemausert hat:
„Er wirkt freundlich, konservativ, hört seinen Bürgern zu. Ab seinem Wahlsieg scheint er nur noch draußen zu sein - bei den Menschen. ... Viele sehen in ihm nicht nur den neuen Bürgermeister von Istanbul, sondern den Mann, der Erdoğan vom Sockel stoßen könnte. Da kann sich der Kommunalpolitiker noch so sehr bemühen, nicht den Hauch von irgendwelchen Ambitionen erkennen zu lassen. Erdoğan kann Imamoğlu jetzt nicht mehr als Istanbuler Bürgermeister akzeptieren. Er sieht in ihm möglicherweise den jungen Recep Tayyip Erdoğan am Anfang seiner Karriere. Schließlich hat auch er mal als Istanbuler Bürgermeister angefangen.“
Weitere Legitimation für die Scheindemokratie
Dass die Oppositionspartei CHP und ihr Kandidat Ekrem Imamoğlu beschlossen haben, die Neuwahl nicht zu boykottieren, bedeutet ein Risiko für sie, fürchtet NRC Handelsblad:
„Der Beschluss der Wahlbehörde ist ohnehin schädlich für das bereits instabile Vertrauen der Türken in den demokratischen Prozess - welche Partei sie auch unterstützen. ... Dennoch will Imamoğlu über den demokratischen Weg erneut den Kampf angehen. ... Die Partei geht damit aber ein Risiko ein. Viele Mitglieder der Opposition fürchten, dass Erdoğans AKP zur Not auch illegitime Mittel einsetzen wird, um zu gewinnen. Denn Erdoğan kann es sich nicht erlauben, Istanbul ein zweites Mal zu verlieren. Es ist ein Dilemma, mit dem die CHP schon länger ringt. Die Partei weiß, dass dieses Spiel ungerecht ist und dass sie mit ihrer Teilnahme eine mangelhafte Demokratie legitimiert.“
Präsident hat zwei Optionen
Der türkische Präsident hat nun zwei Möglichkeiten, mit der Situation umzugehen, analysiert der Publizist Iwan Jakowyna in Nowoje Wremja:
„Erdoğan sagte oft, dass das Land von dem kontrolliert wird, der Istanbul kontrolliert. Deshalb ist er zu jeder Maßnahme bereit, um seine Macht in dieser Stadt zu sichern. Deshalb bestand er auf der Annullierung des Wahlergebnisses in der Hoffnung, dass sein Kandidat gewinnen könnte. Doch das ist wenig wahrscheinlich - die Popularität der Opposition wächst, und ihre Führer schließen sich zusammen. Daher hat Erdoğan zwei Optionen: bei der neuen Wahl zu schummeln oder anzuerkennen, dass seine Ära endet. Ich denke, er wird die erste Option wählen. Und dann wird es zu Protesten und weiteren unangenehmen Folgen kommen.“
Der Sieg der Gier über die Vernunft
Mit seinem demokratiefeindlichen Vorgehen schadet Präsident seinem Land massiv, klagt Financial Times:
„Die Türkei wird zunehmend als Problem gesehen werden, mit dem man zurechtkommen muss, und weniger als zuverlässiger Partner, wenn das Land nicht imstande ist, die Demokratie zu stützen. Erdoğan stand in den vergangenen Wochen vor der Wahl: Er hätte anerkennen können, dass die AKP Istanbul wegen wirtschaftlicher sowie politischer Probleme und Mängel verloren hat - und er hätte Reformen versprechen können. Stattdessen schwächt er die Türkei innen- und außenpolitisch, weil er offenbar von Machtgier besessen ist. Die Niederlage in Istanbul war schmerzhaft für den Präsidenten und seine Partei. Doch eine Untergrabung des demokratischen Wahlprozesses wird für die Türkei und ihre Bürger unendlich schmerzvoller sein.“
Türkei kann nicht mehr als Demokratie gelten
Die Annullierung der Wahl ist ein fatales Signal, das weit über Istanbul hinausreicht, kommentiert Der Tagesspiegel:
„Wenn die friedliche Übergabe der Macht in der größten Stadt des Landes nicht mehr funktioniert, kann von freien Wahlen keine Rede mehr sein. Der politische Wettbewerb wird abgewürgt. Das ist nicht nur für die türkische Innenpolitik eine Katastrophe. Auch die Wirtschaftskrise dürfte sich nun verschärfen, weil die wachsende Willkür die Investoren verschreckt. Außenpolitisch bricht ebenfalls eine neue Zeitrechnung an. Die Türkei kann nicht mehr als Demokratie gelten. Der Westen muss sein Verhältnis zu Ankara überdenken.“
Erdoğans Schuss könnte nach hinten losgehen
Dass der Präsident und die AKP auf die Wahlwiederholung gedrängt hatten, könnte sich bitter rächen, analysiert BBC News:
„Diese Strategie ist voller Risiken. Die türkische Lira, die im vergangenen Jahr mehr als 30 Prozent an Wert verlor, ist erneut gefallen. Eine Wirtschaft in der Rezession kann Unsicherheit kaum verkraften. Letztlich waren es wirtschaftliche Nöte, die dazu führten, dass Erdoğan Istanbul bei der Wahl überhaupt erst verlor. Darüber hinaus gewinnt Ekrem İmamoğlu, der im vergangenen Monat formell zum Bürgermeister ernannt wurde, schnell an Beliebtheit. Er spricht nicht mehr nur seine eigene Basis an und hat schnell in die neue Rolle gefunden. Die Wiederholung der Wahl könnte seinen Vorsprung an Stimmen vergrößern - vorausgesetzt, es gibt keine größeren Unregelmäßigkeiten zu seinen Ungunsten, was viele seiner Unterstützer fürchten.“
Präsidialsystem darf nicht angetastet werden
Der regierungstreue Kolumnist Abdülkadir Selvi sorgt sich in Hürriyet, dass nun das erst im vergangenen Jahr eingeführte Präsidialsystem infrage gestellt werden könnte:
„Wir stehen vor einer harten Prüfung der Demokratie. Wir müssen aus dieser Phase mit einer stärkeren Demokratie hervorgehen, indem wir nicht zulassen, dass die Diskussionen um die Wahl in eine Diskussion um unser neues Regime umschwenken. Doch eine Tatsache steht fest: Mit der Entscheidung des Hohen Wahlausschusses treten wir in eine neue politische Klimazone ein.“