Wer wird britischer Premier?
Außenminister Jeremy Hunt tritt in einer Stichwahl gegen Boris Johnson im Rennen um den Tory-Vorsitz und das Amt des britischen Premiers an. Das letzte Wort haben die Parteimitglieder in einer Urabstimmung, Ende Juli wird das Ergebnis bekannt sein. Für die Nachfolge von May hatten sich zehn Kandidaten beworben. Brexit-Hardliner Johnson gilt als Favorit, doch Hunt ist nicht chancenlos, glauben Kommentatoren.
Johnson könnte Brexit-Deal durchbringen
Ausgerechnet der EU-kritische Ex-Außenminister könnte einen geregelten EU-Austritt doch noch über die Bühne bringen, hofft The Economist:
„Im besten Fall könnte Johnson seine Fähigkeiten als Verkäufer und seinen Kommunikationsstil einsetzen, um dem britischen Parlament den Brexit-Deal - oder etwas sehr Ähnliches - anzudrehen. Das Unterhaus hat diesen ja bereits drei Mal abgelehnt. Theresa May fehlten bei ihrem letzten Versuch 58 Stimmen. Doch sowohl bei der Labour Party als auch bei den Tories geht mittlerweile die Angst um vor dem, was der Brexit mit den eigenen Unterstützern macht. Diese laufen in Scharen zu den Liberaldemokraten beziehungsweise zur Brexit Party über. Es ist vorstellbar, dass ein frisch gewählter Boris Johnson, der in der eigenen Partei beliebt ist und so magnetisch wie Theresa May hölzern wirkt, genug Abgeordnete zu einer Meinungsänderung bewegt.“
Hunt hat es in der Hand
Das Rennen um den Tory-Vorsitz ist noch völlig offen, glaubt Diário de Notícias:
„Jeremy Hunt, der überraschenderweise Michael Gove in der Vorschlussrunde überholen konnte, hat jetzt ein paar Tage Zeit, um am Favoritenstatus von Boris Johnson zu kratzen. ... Hunts Hauptargument wird der unvorhersehbare und widersprüchliche Stil von Johnson sein. Aufgrund seiner Regierungserfahrung wäre die Wahl von Hunt als Parteichef der Konservativen eigentlich erwartbar. Doch die Zeiten in Großbritannien sind alles außer gewöhnlich. ... Die EU wird es entweder mit Johnson zu tun haben, der den Brexit um jeden Preis durchboxen will, oder mit Hunt, der zwar diplomatischer als sein Gegner ist, einen EU-Austritt ohne Vertrag aber ebenfalls nicht ausschließt.“
Im Grunde ein harter Knochen
Hunt wirkt weicher, als er ist, kommentiert Libération:
„Vor einigen Tagen hatte er Donald Trumps beleidigenden Tweet gegen den Londoner Bürgermeister Sadiq Khan zunächst unterstützt, bevor er seine Meinung in einer TV-Debatte dann änderte. ... Diese Wankelmütigkeit, seine sanfte Art, der Hang zum Kompromiss und seine Vergangenheit als Remainer könnten ihm zum Handicap werden bei den Tories, die sich gerne hinter einer starken Brexiteer-Persönlichkeit sammeln wollen. Doch die augenscheinliche Anpassungsfähigkeit kaschiert manchmal harte Entschlossenheit. So weigerte er sich, seinen Posten als Gesundheitsminister zu räumen, als May versuchte, ihn ins Finanzministerium herabzustufen. Sie gab nach. Man dürfe ihn nicht unterschätzen, und er noch für eine Überraschung sorgen könnte, sagen seine Anhänger.“
Mit Johnson ins Verderben
Falls Johnson zum Nachfolger Mays wird, dürften Großbritannien chaotische Zeiten bevorstehen, fürchtet die London-Korrespondentin des Handelsblatts, Kerstin Leitel:
„Schon in der Vergangenheit ist Johnson nie davor zurückgeschreckt, mit vollmundigen Versprechen für Aufruhr zu sorgen - gehalten hat er diese selten. ... Auch im Kampf um die Nachfolge Mays wird Johnson viel versprechen - und am Ende nicht einlösen können. Besser und berechenbarer wird seine Politik dadurch aber nicht. Deshalb ist zu hoffen, dass er im Rennen um das Amt des Premiers ausgestochen wird und ein anderer May-Nachfolger realistischer mit der EU über den Brexit verhandelt. Sehr wahrscheinlich ist das angesichts der aktuellen Pro-Brexit-Stimmung auf der Insel aber leider nicht.“
Oft haben sich Außenseiter durchgesetzt
Dass der Favorit Boris Johnson sich durchsetzt, ist für Le Soir hingegen längst nicht ausgemacht:
„Soll man den Meinungsumfrage-Instituten glauben, die diesen großen Schauspieler vorne liegen sehen? Sie haben sich schon so oft getäuscht über das britische Wahlvolk. ... Vor allem haben in der Vergangenheit diejenigen, die als Favoriten galten, gegen Außenseiter wie John Major oder David Cameron verloren, die völlig unbekannt waren und keine Stars der Politik. Die Geschichte der britischen Konservativen ist gespickt mit populären Hits, die von ihren Artgenossen abgewürgt wurden. 'That's life', würde Frank Sinatra singen.“
Verantwortungslose Versprechen der Kandidaten
Dass fast alle Anwärter auf die May-Nachfolge im Rahmen ihres Wahlkampfs darüber spekulieren, wie sie Steuersenkungen für Bessergestellte realisieren können, missfällt Financial Times:
„Die Kandidaten sollten sich bemühen, den Ruf der Partei wiederherzustellen, verantwortungsvoll mit öffentlichem Geld umzugehen und wirtschaftlich klug zu agieren, anstatt sich gegenseitig mit sinnlosen Angeboten an die Basis zu überbieten. Erst wenn sichergestellt ist, dass ein ungeregelter Brexit verhindert wurde, sollte der nächste Regierungschef öffentliche Gelder lockermachen. Zunächst sollten die folgenschwersten Ausgabenkürzungen des vergangenen Jahrzehnts rückgängig gemacht werden. ... Die Konservativen sollten sich bemühen, das ganze Land und nicht nur über eine kleine Gruppe politischer Aktivisten zu regieren.“
Wege aus dem Brexit-Dilemma
Der neue Premier hat drei Alternativen, um das Brexit-Dilemma zu lösen, führt Keskisuomalainen aus:
„Eine Alternative ist, dass das von May ausgehandelte Austrittsabkommen dem Parlament doch genügt. ... Die zweite Alternative ist ein EU-Austritt ohne Abkommen. ... Und die dritte Alternative ist, mit der EU ein neues Abkommen zu verhandeln. Doch dazu wird die EU aus vielen Gründen nicht so leicht zu bewegen sein. ... Die Briten könnten vor neuen Parlamentswahlen stehen, wenn der von den Konservativen gewählte neue Premier keine Lösung für das Brexit-Problem findet. Allerdings versuchen sie mit allen Mitteln vorzeitige Parlamentswahlen zu vermeiden, denn die Umfrageergebnisse sind derzeit nicht sonderlich gut.“
Neuer Stern am britischen Politikhimmel
Rory Stewart ist für das Nachrichtenmagazin Polityka der perfekte Nachfolger von May:
„Stewart verdankt seine Popularität einer klaren Haltung zum Brexit und einer engagierten Kampagne, die auf positiven Emotionen basiert. Während andere Kandidaten die EU ohne Abkommen verlassen wollen und keine Pläne für die Zukunft skizzieren, sagt Stewart klar: Ein EU-Austritt ohne Abkommen macht nicht den geringsten Sinn, sondern brockt Großbritannien die schlechtesten Handelsbedingungen mit der EU ein, die die WTO zulässt - vergleichbar mit den Bedingungen, unter denen Afghanistan Handel treibt. Während Johnson und Raab ihre Kampagnen hauptsächlich über die Medien spielen, bereist Stewart das ganze Land und trifft sich mit Parteimitgliedern. Anstatt den Leuten Angst einzujagen, spricht er über das enorme Potenzial Großbritanniens, das von den guten Beziehungen zur EU abhängt.“
Boris Johnson ist ein zweiter Trump
Mit Boris Johnson würden die Tories ihren eigenen Trump ins Amt des Premiers holen, kommentiert Duma:
„Trump und Boris Johnson haben nicht nur ähnliche Frisuren, sie haben auch ein ähnliches Verhalten. Johnson ist, wie Trump, für seine undurchdachten Äußerungen, seinen Egozentrismus und seine Machtbesessenheit bekannt. Ähnlich wie Trump wird er für seine Verhaltensweise häufig verspottet, sie bringt ihm aber auch viele Fans ein. Nicht zufällig lobte Trump gleich nach seiner Ankunft in London ausgerechnet Johnson und empfahl ihn den Briten als ihren nächsten Premier. Das hat zwar bei vielen von ihnen für Empörung gesorgt, doch auch ohne die Empfehlungen Trumps hat Johnson gute Chancen auf das Amt. “