Kann Hongkong einen Erfolg verbuchen?
In Hongkong sind am Wochenende erneut Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen. Zwar hatte Regierungschefin Carrie Lam am Samstag das geplante Auslieferungsgesetz auf Eis gelegt und sich bei den Bürgern entschuldigt. Doch die Demonstranten fordern nun Lams Rücktritt und die komplette Rücknahme des Gesetzesvorhabens, das die Auslieferung mutmaßlicher Straftäter an China ermöglichen würde.
Zum Wohle unserer Kinder nicht länger schweigen
Pekings Gesetze dürfen nicht in Hongkong gelten, betont Professorin Selina Cheng in einem Gastkommentar in Público:
„Ich habe meinen Töchtern erklärt, warum wir an der Protestkundgebung teilnehmen sollten: Sollte das Gesetz verabschiedet werden, würden Chinas Gesetze in Hongkong gelten und wir würden '8964' (in Anspielung auf das Tiananmen-Massaker vom 4. Juni 1989) nicht mehr sagen dürfen. ... Wir brauchen die Unabhängigkeit und Autonomie unserer Justiz. Wir verdienen zumindest eine angemessene Debatte über diese Gesetzgebung und nicht, dass die Regierung uns die Gesetze die Kehle runterwürgen lässt. Wir werden nicht länger schweigen. Dies wird ein Kampf sein, den wir weiterhin für uns und unsere Kinder führen werden, da wir immer noch der Meinung sind, dass eine Regierung auf ihre Bürger hören sollte.“
Kirche hat die Demokratie gefördert
Auch die katholische Kirche hat zum kritischen Bewusstsein der Zivilgesellschaft in Hongkong beigetragen, lobt Avvenire:
„Wer glaubt, dass die 'Schweiz Asiens' nun zu Apathie und Wirtschaftskult verurteilt ist, wird eines Besseren belehrt. ... Dies ist auch auf die Bildung eines demokratischen Bewusstseins zurückzuführen, das die katholische Kirche mit einer umfassenden Bildungsarbeit geduldig gepflegt hat... Die katholische Kirche hat sich, zusammen mit anderen christlichen Kirchen, immer wieder an Protestbewegungen beteiligt. Darunter waren nicht selten auch Kirchenobere. So nahm Kardinal Josep Zen, emeritierter Bischof der Diözese, an der jährlichen Mahnwache zum Gedenken an das Massaker von Tiananmen teil. Der aktuelle Weihbischof Joseph Ha Chi-shing unterstützte ausdrücklich die Anliegen der Demonstranten.“
Etappensieg für Bürgerrechte
Pekings Druck auf Hongkong wird nicht verschwinden, bekam aber einen Dämpfer, erklärt Der Standard:
„Der Erfolg der Protestbewegung kann sich sehen lassen: Die Regierung kündigte an, das umstrittene Auslieferungsgesetz wenigstens auf Eis zu legen. Selbst aus Peking erhielt sie dafür 'Unterstützung, Respekt und Verständnis'. Auch wenn die Demonstranten die völlige Rücknahme des Gesetzes fordern: Sie haben eindrucksvoll bestätigt, dass sie einer Gängelung ihrer Sonderverwaltungszone nicht einfach tatenlos zusehen werden. ... Auch diesmal wurde nur ein Etappensieg erzielt. Unter den schwierigen Lebensbedingungen der Hongkonger Demokratie ist das eine ganze Menge.“
Hongkong könnte Schule machen
Pekings Hongkong-Politik ist gescheitert, stellt Chefredakteur Maurizio Molinari in La Stampa fest:
„Pekings massive wirtschaftliche, rechtliche und infrastrukturelle Anstrengungen in den letzten 20 Jahren, Hongkong zunehmend in sein Gebiet auf dem Festland zu integrieren, haben nicht die Voraussetzungen für eine kulturelle und politische Annexion geschaffen. Mit anderen Worten: Die Formel 'Ein Land, zwei Systeme' hat nicht zu einer Schwächung, sondern zu einer Stärkung des Hongkonger Modells geführt. Sie hat sich in einen Bumerang für Peking verwandelt, das sich mit einer tief verwurzelten Autonomie konfrontiert sieht. ... Das größte Risiko für Präsident Xi besteht darin, dass die anderen autonomen Regionen - angefangen bei Tibet und [dem Uigurischen Autonomen Gebiet] Xinjiang - aus dem, was in Hongkong geschieht, Kraft schöpfen und die Überzeugung entwickeln, dass das Regime angefochten werden kann.“
Eine Aufgabe für echte Patrioten
Hongkong ist mit seinen Protesten Vorbild für ganz China, meint der russische Politologe Andrei Subow in Nowoje Wremja:
„Die Demonstranten, darunter mehrheitlich Jugendliche, haben gewonnen. Und auf dem chinesischen Festland - Stille. Dort gibt es kein offizielles Erinnern an den blutigen Jahrestag des Massakers auf dem Platz des Himmlischen Friedens. ... Derzeit sind die chinesischen Kommunisten noch nicht entschlossen, ihr repressives Regime auf das halbfreie Hongkong auszudehnen. Hongkongs Bewohner haben keine besondere Angst vor einem 'Blutbad' wie in Tiananmen. ... Auf dem Kontinent gibt es nicht den leisesten Protest - und in Hongkong brodelt es. ... Die Aufgabe für die echten chinesischen Patrioten ist es nicht, Hongkong mit China zu vereinen, sondern das kommunistische China zu einem Hongkong zu machen. Eine sehr große Herausforderung.“
China wird sich nicht aufhalten lassen
Dass Proteste so schnell leider nichts am Schicksal der Ex-Kolonie ändern werden, fürchtet hingegen El Mundo:
„Es ist nur ein vorübergehender Sieg, um sich den demokratischen Status zu bewahren, den die ehemalige britische Kolonie nach der Rückgabe an China noch genießt. ... Der Hongkonger Kampf stimmt die internationale Staatengemeinschaft melancholisch, weil die kommunistische Diktatur sich nicht davon wird abhalten lassen, dieses autonome Gebiet immer stärker politisch zu kontrollieren. Peking kann sich keine Räume mit Freiheiten leisten, wo doch sein gesamtes System auf Repression und der völligen Abwesenheit demokratischer Rechte aufbaut.“
Hält Xi Chinas Versprechen?
Die Motive der Demonstranten erläutert Gazeta Wyborcza:
„Hongkong ist eine ehemalige britische Kolonie, die 1997 zurück in die Hände Chinas ging und bis heute über freie Gerichte und Rechte für Angeklagte verfügt. Die Bürger wissen, wie viel das wert ist, und verteidigen sich deshalb verzweifelt. ... Als China im Jahre 1997 die Staatshoheit Hongkongs übernahm, versprach es, Hongkongs 'kapitalistische' Freiheiten bis 2047 zu bewahren, nach dem Motto 'ein Land, zwei Systeme'. ... Für diesen Zeitraum sollte die Metropole autonom bleiben und ihre unabhängigen Gerichte, den öffentlichen Dienst und ihre Meinungsfreiheit behalten. Ob der chinesische Staatspräsident Xi Jinping das Versprechen Deng Xiaopings halten wird? Der Kampf um den Auslieferungsvertrag wird es zeigen.“
Versuchslabor der Zukunft
Für die Tageszeitung Die Welt geht es bei dem Konflikt ums Ganze:
„[A]n der Nahtstelle zwischen Hongkong im vertraglichen Sonderstatus und dem chinesischen Festland entscheidet sich, wer die Erde erbt: die konfuzianische Parteidiktatur, welche Menschen und Medien nach ihrem Bilde formen will, oder Idee und Wirklichkeit der Freiheit westlicher Observanz. Dies ist auch keine Revolte am Rande der Welt, sondern im Epizentrum der digitalen Revolution ein Ringen um Menschen und Macht. Was vor 30 Jahren auf dem Platz des Himmlischen Friedens - für China Mittelpunkt des Universums - in Auflehnung gegen die Panzer des Regimes begann und in Blut und Feuer erstickt wurde, ist jetzt als Inspiration einer neuen Generation auferstanden: nicht auf dem Festland, sondern in Hongkong, das damit Versuchslabor der Zukunft weit über Chinas Grenzen hinaus wird.“
Warnung an den Westen
Die Proteste in Hongkong sollten Europa die Augen öffnen, rät Contrepoints:
„Der konstante Druck Pekings, um Hongkong zu 'normalisieren', also es seiner Freiheiten zu berauben und dessen unverschämtem Erfolgsmodell ein Ende zu setzen, ist eine Lehre für den Westen über die wahre Natur des chinesischen Kommunismus. Im Zentrum des politischen System Chinas steht der Kongress der Kommunistischen Partei, dessen bewaffneter Arm der Ständige Ausschuss des Politbüros ist. Es gibt kein 'autoritäres kapitalistisches' Modell in China, sondern eine leninistische Organisation, die sich der wirtschaftlichen Lehren des Kapitalismus bedient, um ihre Herrschaft auszuweiten. Dies reicht bis zur Eliminierung der Vorposten der Freiheit in Asien, aber auch in der ganzen Welt. Die Lehre des Muts der Demonstranten in Hongkong ist eine Warnung für Europa.“
Geiseln des Handelskriegs
Die Demonstranten in Hongkong müssen unterstützt werden, fordert La Stampa:
„Die Menschenrechte derer, die für das kämpfen, was in Hongkong noch nicht diktatorisch ist, sind leider zu Geiseln des Duells zwischen den USA und China geworden; des Handelskriegs, der militärischen Reibung auf den Handelsrouten im Pazifik, des Kampfes um Technologie, um Daten, künstliche Intelligenz und 5G. Aus diesem Grund ist der verzweifelte Protest noch lobenswerter und sollte unterstützt werden. ... Italiens Regierung, die für eine Handvoll Verträge bis dato dem letzten kommunistischen Regime gegenüber eher wohlgesonnen ist, könnte zumindest ein Wort der Solidarität fallen lassen, im Sinne des Artikels 10 unserer Verfassung, der die internationalen Menschenrechte schützt und Auslieferung [wegen politischer Motive] für unzulässig erklärt.“