Johnson in der Downing Street: Fluch oder Segen?
Der neue britische Premier Boris Johnson spaltet die Kommentatoren. Während manche ihn für einen notorischen Lügner halten, der nur seinen eigenen Vorteil im Blick hat, meinen andere, dass Johnsons volksnahe Art missverstanden wird und sich zum Beispiel gar nicht mit der Politik von Trump vergleichen lässt.
Ein egozentrischer Lügner
Sein eigenes Wohl steht für den britischen Premier an oberster Stelle, bedauert Kolumnist Ramūnas Bogdanas auf dem Onlineportal des öffentlich-rechtlichen Rundfunks LRT:
„Während seiner fünfjährigen Tätigkeit als Korrespondent von The Daily Telegraph in Brüssel, bläute er konservativen Briten bereits allerlei Unsinn über die EU ein und schürte damit Euroskeptizismus im Land. ... Er hat bereits so viel gelogen, dass sein Versprechen, den Brexit bis zum 31. Oktober zu vollziehen, bedeutungslos ist. ... Man kann vorhersehen, dass der narzisstische Egozentriker Johnson sein Verhalten so anpasst, dass er möglichst lange auf dem Premiersposten bleibt. Sieht er seine Chance dafür in vorgezogenen Neuwahlen, wird er dazu aufrufen. Sollte ihm ein neues Referendum helfen, wird er versuchen zu beweisen, wie wichtig dieses sei.“
Er trifft den richtigen Ton
Warum Johnson bei so vielen Menschen ankommt, erklärt der in Slowenien lebende Publizist Keith Miles auf Portal Plus:
„Er nutzt eine Art der Veranschaulichung, die sich fast mit Parabeln vergleichen lässt. Damit erklärt er die Dinge in einem Stil, den er während seines Studiums der griechischen Dialektik lernte. Das wird oft falsch verstanden und als Fake News bezeichnet. Doch für die Normalbürger, die der politischen Korrektheit überdrüssig sind, ist das verständlich. In Zeiten der tiefen Kluft zwischen der sogenannten Elite und dem normalen Bürger, macht Johnsons Fähigkeit, mit der Öffentlichkeit in Kontakt zu treten, einen großen Teil seines Charismas aus. Er spricht mit den Menschen, ohne sie zu unterschätzen. Er hört ihnen zu und sein Patriotismus entspricht ihrem.“
Was Johnson von Trump unterscheidet
Aufgrund seiner harten Brexit-Politik wird Boris Johnson gerne als Nationalist beschrieben und mit Trump verglichen. Politologe João Marques de Almeida ist in Expresso ganz anderer Meinung:
„Boris Johnson ist viel mehr ein klassischer Liberaler als ein Nationalist. Trump ist Chauvinist, Boris Kosmopolit. Trump ist radikal gegen Migration, Boris dafür. ... Trump bestreitet den Klimawandel und die Bedeutung der Umweltpolitik. Boris nicht. Trump ist ein selbst gemachter Mann mit ernsthaften Bildungsdefiziten, Boris wurde an den besten britischen Schulen und in Oxford unterrichtet. Und vor allem wurde Boris nie wegen grober Verstöße gegen die Justiz, Bedrohung des Rechtsstaats oder Korruption angeklagt.“
Urschrei der Verzweiflung
Wer Boris Johnson verstehen will, muss sich nur seine jüngste Kolumne für The Daily Telegraph durchlesen, argumentiert The Independent und zitiert:
„'Wenn wir in der Lage sind, einen Mann auf den Mond zu schicken, können wir auch das nordirische Grenzproblem lösen.' Die einzige Reaktion, die jemand mit mehr als zwei Hirnzellen auf solch verlogenen Dreck haben kann, ist eine Art Urschrei der Verzweiflung. Die Leute, die Menschen auf den Mond schickten, hatten einen Plan an dem sie jahrzehntelang hart gearbeitet haben. Sie kamen nicht einfach durch Lügen dorthin. Das irische Grenzproblem war schon gelöst - dank der beeindruckenden politischen Errungenschaft des Karfreitagsabkommens. Beim Brexit geht es nicht um eine Lösung. Er ist das Problem.“
Ohne die geringsten Gewissensbisse
Johnson ist ein skrupelloser Lügner, der alles tut, um an die Macht zu gelangen, betont Público:
„Wenn es nötig wäre, würde sich Boris Johnson sogar an einem Seil schwebend mit der britischen Flagge aus den Ohren hängend im Fernsehen präsentieren, um für Quoten und Bekanntheit zu sorgen. ... Wenn es nötig ist zu lügen, zu täuschen, zu betrügen oder Entscheidungen zu verteidigen, von denen er weiß, dass sie schädlich für das Land, doch gut für seinen Aufstieg sind, wird Boris Johnson dies tun. Und er hat es ja bereits ohne die geringsten Gewissensbisse getan.“
Ein harter Brocken für Moskau
Für Wedomosti ist die Wahl Johnsons hingegen eine positive Entwicklung:
„Er hat schon reichlich politische Erfahrung - Londoner Bürgermeister und dann Minister - und dabei nicht an Frische, Reaktionsschnelle, hervorragendem Humor und der Neigung zu paradoxen Schritten verloren. ... Er wird kein einfacher Partner für Europa wie auch für die USA sein, doch für Russland ist er doppelt und dreifach unangenehm: Johnson war der schärfste Kritiker Russlands im Vergiftungsfall von Salisbury. Schon nach seiner Amtszeit als Außenminister sagte er, dass alle britischen Premiers und Außenminister der letzten zehn Jahre immer mit dem Thema der Normalisierung und des Neustarts der Beziehungen zu Russland daher gekommen seien - und dass klar sei: Für ihn habe das keine Priorität.“
Johnson, der Wunderbare
Chefredakteur Ulf Poschardt verteidigt in der Tageszeitung Die Welt Johnson gegen den Vorwurf, er sei ein antiliberaler Reaktionär:
„Johnson ist Weltenbürger, in New York geboren, mit deutschen und türkischen Wurzeln, Kind der Popkultur ebenso wie der europäischen Hochkultur. Er liebt Fahrräder und baute als Londoner Bürgermeister Radwege, er schrieb Kolumnen über Autos und witzelte in der Kultsendung 'Top Gear'. Er begehrt Frauen und schreibt schlüpfrige Romane. Er lässt sich von Donald Trump beklatschen und schäkert mit dem linken Umweltredakteur des 'Guardian'. ... Die Stadt [London] wurde unter ihm bunter, frecher und selbstbewusster. Das muss er jetzt auch mit dem Vereinigten Königreich hinbekommen. Wir Europäer sollten ihm Glück wünschen und auf ihn zugehen. Johnson ist - auch! - wunderbar.“
Keine Chance auf einen Brexit-Kompromiss
In Sachen Brexit werden sich die künftige Kommissionschefin von der Leyen und Großbritanniens Premier Johnson nicht näher kommen, prophezeit der Journalist Iwan Jakowyna in Nowoje Wremja:
„Ursula von der Leyen hat bereits deutlich gemacht, dass sie keine neuen Forderungen nach einer Änderung des Austritt-Deals akzeptieren werde. Für uns alle wird interessant sein zu beobachten, wer von den beiden gewinnt. Wird der extrovertierte Boris die Eiswand, die die deutsche Gräfin umgibt, zermalmen oder lässt sie den Urenkel des Wesirs Osman Ali in ihren Umarmungen gefrieren? Ich bin sicher, dass man irgendwann darüber einen Film drehen wird - ein Film mit einem tragischen Ende. Denn für einen Kompromiss zwischen Brüssel und London in der Brexit-Frage sehe ich keine Chance.“
Gott steh uns bei!
Dagens Nyheter sieht Johnsons Aufstieg als symptomatisch:
„Wie The Economist kürzlich in einer Sonderausgabe beschrieb, steht es vielerorts in der westlichen Welt schlecht um einst verantwortungsvolle, staatstragende liberal-konservative Parteien. ... Verängstigt von populistischen, reaktionären und irrationalen Strömungen haben sich sowohl die amerikanischen Republikaner als auch die britischen Konservativen von zwei politischen Abenteurern kapern lassen, die stets dem Eigeninteresse den Vorrang geben. Indem die Tories Johnson den begehrten Job geben, machen sie die Zukunft noch unsicherer - nicht nur für die eigene Partei und das eigene Land, sondern im schlimmsten Fall für die ganze Welt. ... Wenn die Spannungen in der Straße von Hormus weiter eskalieren, müssen wir unsere Hoffnungen in Donald Trump und Boris Johnson setzen. God save the Queen? Das reicht nicht aus. Gott helfe uns allen!“
In Sachen Brexit gibt es einen Strohhalm
Zwei Aspekte schenken Trost angesichts der Wahl Johnsons, glaubt The Irish Times:
„Erstens könnten Johnsons Schwächen es leichter machen, ein funktionierendes Abkommen abzuschließen, welches das Desaster eines No-Deal-Brexits vermeidet. Es ist nicht nur so, dass ihn sein berühmt gewordenes Unvorbereitet-Sein, Detailschwäche und mangelnde Konzentrationsfähigkeit zu einem schlechten Verhandlungsführer machen. Noch entscheidender ist, dass er ein Mann mit wenig starren Ansichten und wenig Interesse an Kontinuität ist und sich zudem beliebig oft selbst widerspricht. ... Zweitens geben Johnsons Mandat und seine Beliebtheit in der Partei ihm die Freiheit, die Vertreter eines harten Brexit zu betrügen - in dem Wissen, dass er das überleben wird.“