Profitiert Erdoğan vom Krieg in Syrien?
Während das Militär in Syrien vorrückt, geht die türkische Regierung gegen Kritiker im eigenen Land vor. So wird etwa gegen die beiden Co-Vorsitzenden der prokurdischen Oppositionspartei HDP ermittelt, weil sie die Operation als Invasion bezeichneten. Alle anderen Parteien befürworten allerdings den Einmarsch. Kommentatoren überlegen, ob Erdoğan langfristig vom Krieg profitiert oder ob dieser ihm schadet.
Bürger vereint hinter ihrem Präsidenten
Mag Erdoğan im Westen auch auf noch so große Kritik treffen - im eigenen Land punktet er, beobachtet NRC Handelsblad:
„Der türkische Militäreinsatz im Nordosten Syriens ist vielleicht das größte Wagnis von Präsident Erdoğans langer politischer Laufbahn. Vorläufig mit positiven Folgen für ihn. Die Offensive lenkt die Aufmerksamkeit ab von den wirtschaftlichen Problemen und der Meuterei innerhalb seiner AKP. Er spielt die erst kürzlich erwachte und vereinigte Opposition gegeneinander aus und er vereinigt die Bürger hinter ihren Truppen und ihrem Befehlshaber. ... Die internationale Kritik gibt Erdoğan außerdem die Chance, sich als stolzer Führer zu präsentieren, der standhaft bleibt, während die ganze Welt gegen ihn ist. Dafür sind die Türken sehr empfänglich.“
Sultan bringt sich in Schwierigkeiten
Mit dem folgenreichen Syrien-Einsatz schwächt sich der türkische Präsident innenpolitisch massiv, entgegnet The Guardian:
„Erdoğan behält die Zügel der Macht vorerst fest in seiner Hand, aber nicht mehr so fest wie früher. Die wütende internationale Gegenreaktion auf seinen katastrophalen Syrien-Einsatz, die der breiten Öffentlichkeit seine Fehlbarkeit offenbart, wird ihn weiter schwächen. Wenn die von Donald Trump verhängten neuen Sanktionen auf Stahl und andere Güter die bereits tief sitzenden wirtschaftlichen Probleme verschärfen, indem sie zu mehr Not, Preiserhöhungen und Arbeitsplatzverlusten führen, und wenn türkische Soldaten im syrischen Sumpf in großer Zahl zu sterben beginnen, könnte dieser moderne Sultan in große Schwierigkeiten geraten.“
Türkei wird nicht zur Ruhe kommen
Erdoğans Feldzug könnte sich im eigenen Land als kontraproduktiv erweisen, glaubt auch die Tageszeitung Die Presse:
„Eine Offensive zu starten und die eigene kurdische Bevölkerung nicht gegen sich aufzubringen - das ist unmöglich. Erdoğan kann nicht die Parole ausgeben: 'Wir bekämpfen nicht die Kurden' - und am Dienstag vier gewählte Kurdenvertreter verhaften lassen. Die Regierung weiß, dass sich die Lage im Südosten weiterhin zuspitzen wird, vielleicht bis zur endgültigen Eskalation. Ankara hat an einem Frieden mit den Kurden kein Interesse mehr, und ohne diesen Friedensprozess wird die Türkei samt Militär nicht zur Ruhe kommen.“
Vielleicht folgt Ankara Moskaus Plan
Cyprus Mail hält es für möglich, dass sich die Türkei und Russland abgesprochen haben:
„Erdoğan kann entweder zurückweichen und gedemütigt werden, oder er kann einen Krieg mit der syrischen Armee, und der russischen Luftwaffe riskieren. So sieht es jedenfalls an der Oberfläche aus, und vielleicht ist das auch alles, was hier vor sich geht. Aber wir müssen auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass das Ganze eine Farce war, meisterhaft erdacht und orchestriert von den Russen, um die Amerikaner aus Syrien herauszubekommen und die Kontrolle der syrischen Regierung über ganz Ostsyrien wiederherzustellen. ... Erdoğan erklärt einen Waffenstillstand und zieht schließlich seine Truppen zurück. Er ist zufrieden damit, dass die kurdische 'Bedrohung' beendet ist, weil die syrische Armee und nicht die SDF jetzt die Grenze kontrolliert.“