Kann die Waffenruhe in Nordsyrien etwas bewirken?
Seit Freitag und noch bis Dienstag gilt in Nordsyrien eine Waffenruhe, die US-Diplomaten mit Ankara ausgehandelt haben. Die Kurdenmiliz YPG soll in dieser Frist die von der Türkei angestrebte Sicherheitszone verlassen und Ankara seine Angriffe beenden. Nicht nur, weil sich Türken und Kurden gegenseitig vorwerfen, die Waffenruhe zu verletzen, betrachten Kommentatoren die Vereinbarung skeptisch.
Alles andere als eine langfristige Lösung
Für T24 steckt die Abmachung voller Unwägbarkeiten:
„Gemäß der Vereinbarung werden jetzt die Waffen von den USA wieder eingesammelt. Das Bild sieht folgendermaßen aus: Amerika sagt zur YPG 'greift an', und sie greifen mit den Waffen an, die Amerika ihnen gab. Amerika sagt 'zieht euch zurück' und sammelt die Waffen wieder ein, und die YPG zieht sich zurück. Doch für wie lange und für welche Gegenleistung? Das wissen wir nicht. Die Operation endet jetzt, aber was wird nun unternommen, um eine langfristige Lösung für das Problem zu finden? Oder wird die Vereinbarung zur Waffenruhe in wenigen Monaten wieder aufgehoben und die Türkei startet eine weitere Operation? Das alles wissen wir nicht.“
Ein Abkommen ohne Perspektive
Auch Phileleftheros empfindet das, was in Ankara beschlossen wurde, als wenig handfest:
„Das Abkommen löst das Problem nicht. Es gibt der Diplomatie etwas Zeit, und das ist gut so. Diese Zeit kann aber auch für die Neuordnung der Truppen auf dem Schlachtfeld genutzt werden. Und das ist sehr schlecht. … Es ist klar, dass mit dem Waffenstillstand nichts endet. Es wird wahrscheinlich Entwicklungen vor Ort geben, bevor die Frist abläuft. Gleichzeitig sollten wir die Ergebnisse des Putin-Erdoğan-Treffens [am Dienstag] abwarten, das unmittelbar nach dem Ende des Waffenstillstands stattfinden wird. Es ist offensichtlich, dass die Russen in Syrien eine wichtige Rolle spielen, möglicherweise sogar die wichtigste.“
Russland darf jetzt nicht Weltpolizist spielen
Moskau muss mit seiner neu gewonnenen Machtposition in Nahost verantwortungsvoll umgehen, mahnt der Direktor des Carnegie Moscow Centers, Dmitri Trenin, in Financial Times:
„Nach ihrem Abzug lassen die US-Amerikaner die Russen als einzige nicht-regionale Macht in Syrien zurück. Doch nicht nur das, sie überlassen Moskau auch eine Reihe von Problemen, um die es sich nun kümmern muss. ... Um seinen Erfolgskurs fortsetzen zu können, muss Russland gegenüber allen Partnern offen bleiben und seine Fähigkeiten als Vermittler perfektionieren. Außerdem muss sich das Land seiner finanziellen und wirtschaftlichen Grenzen bewusst sein. Letztlich sollte Russland niemals versuchen, in die Fußstapfen der USA zu treten, um die Probleme der Welt zu lösen. Moskau lernt, dass die Belohnung für Erfolg eine ganze Reihe neuer Probleme ist.“
Europa erkennt die Gefahr nicht
Europa unterschätzt die Tragweite des aktuellen Konflikts, warnt Chefredakteur Maurizio Molinari in La Stampa:
„Es ist nicht schwer, zu dem Schluss zu kommen, dass das wahrscheinlichste Szenario kurzfristig eine Zunahme der Spannungen zwischen den großen Rivalen des Islam - den iranischen Schiiten und den saudischen Sunniten - sein wird. Ein Funke würde genügen, um einen offenen Krieg zu entzünden. Es liegt im Interesse Europas, eine solche Eskalation zu vermeiden, denn wir würden einen sehr hohen Preis zahlen – in Bezug auf Sicherheit, Migration und Handel. Doch scheinen unsere Führungskräfte gespalten, abgelenkt und kurzsichtig zu sein, wenn es darum geht, das Mittelmeer als die am dringendsten zu schützende Grenze zu betrachten.“
Schadensregulierung für Trump
Pence musste für Trump die Kastanien aus dem Feuer holen, glaubt der USA-Korrespondent Federico Rampini in La Repubblica:
„Trumps Anti-Diplomatie steht seit einer Woche im Kreuzfeuer der Kritik. Nicht nur der Rest der Welt, sondern auch das gesamte amerikanische Establishment, einschließlich eines Großteils der Republikaner, haben sich auf ihn eingeschossen. Das Repräsentantenhaus in Washington hat seine Entscheidung, Truppen aus Syrien abzuziehen - die schließlich grünes Licht für Erdoğans Invasion gab - verurteilt, und sogar der Senat, in dem die Republikaner die Mehrheit haben, drohte dies zu tun. Deshalb musste Trump die diplomatische Expedition seines Stellvertreters Pence und seines Außenministers Pompeo improvisieren, die gestern Abend, am Ende eines langen Gesprächs mit Erdoğan, das 'Wunder' vollbrachte.“
Makel wird den USA anhaften
Die Waffenruhe reicht nicht aus, um Trumps diplomatischen Fauxpas auszubügeln, fürchtet Berlingske:
„Die Verantwortung für ein Blutbad und den Verrat eines engen Alliierten wird in den Augen vieler weiter an seiner Präsidentschaft kleben. Die Waffenruhe lässt seine Parteifreunde und die westlichen Alliierten mit ihrer Kritik nicht verstummen: dass Trump mit seiner Anweisung, die amerikanischen Soldaten heimzuholen, die Kurden in Nordsyrien im Stich gelassen hat, nachdem diese den USA beim Kampf gegen den IS geholfen hatten. Das kann für die USA in Zukunft ernste Konsequenzen haben, denn es könnte schwierig werden, Alliierte zu finden, wenn diese fürchten müssen, plötzlich allein auf dem Schlachtfeld zu stehen.“
Hat es dafür einen Krieg gebraucht?
Die Invasion hat letztlich zu einem für den türkischen Präsidenten paradoxen Ergebnis geführt, stellt die Süddeutsche Zeitung fest:
„Erdoğan hat einst die Allianz gegen den Diktator Baschar al-Assad angeführt. ... Nun bewirkte ausgerechnet der türkische Einmarsch, dass Assads Armee sich jenen Teil Syriens zurückholen konnte, den Damaskus den Kurden überlassen hatte. So ist der syrische Diktator der größte Gewinner der türkischen Offensive. Zudem hatte Trump mit Sanktionen gedroht. Das wirkte. Pence lobte dafür ausführlich Erdoğan und das gute Verhältnis USA-Türkei. Hat es dafür einen Krieg gebraucht?“
Naher Osten zu unberechenbar für Zukunftspläne
Niemand kann in Syrien und im gesamten Nahen Osten langfristige Pläne machen, schlussfolgert der Kolumnist Ahmet Taşgetiren in Karar:
„Wann und wie werden solche Probleme wie die Rückkehr der Flüchtlinge in ihre Heimat, die Ausschaltung der YPG, das Schicksal der syrischen Armee gelöst? ... Ständig verschieben sich die Gleichungen und damit das Ergebnis. An einem Tag ist jemand sehr mächtig, am nächsten Tag ist er durch die Machtverhältnisse zwischen den globalen Zentren eingeschränkt. Erinnern Sie sich an die Ressentiments gegenüber der Assad-Regierung im Jahr 2011. ... Wer hätte damals voraussehen können, dass Assad so lange an der Macht bleibt? ... Aber so ist die Welt. So ist der Nahe Osten.“