Weltweit Proteste: Gibt es eine Verbindung?
Libanon, Irak, Hongkong, Chile, Ecuador... In vielen Ländern und Regionen gehen Bürgerinnen und Bürger in diesen Wochen auf die Straße. In der europäischen Presse untersuchen Kommentatoren, ob es einen Zusammenhang zwischen den Protestwellen gibt und indentifizieren dabei einen gemeinsamen Katalysator.
Es riecht nach lateinamerikanischem Frühling
Die Epoche der linken Regierungen in Lateinamerika schien vorbei zu sein, doch die neuen Machthaber haben die Rechnung ohne die Bürger gemacht, analysiert Trud:
„In Brasilien wurde der beliebte Arbeiterpartei-Führer Luiz Inácio Lula da Silva, der in den Umfragen vor der Präsidentschaftswahl weit vorn lag, in einem Schauprozess wegen Korruption verurteilt, woraufhin der ultrarechte Jair Bolsonaro an die Macht kam. … In Ecuador zog der neue Präsident Lenín Moreno vor den USA und dem IWF den Schwanz ein und führte ein 4,2 Milliarden Dollar schweres Sparprogramm ein. … Daraufhin kam es zu einer gesellschaftlichen Explosion und Massenprotesten. … Es ist noch zu früh für ein Urteil, doch es ist nicht ausgeschlossen, dass der neue Linksruck, der sich im Moment vor unseren Augen vollzieht, bald ganz Lateinamerika mitreißen wird.“
Inspiration findet sich auch auf Facebook
Público glaubt, dass sich die Protestbewegungen in den unterschiedlichen Ländern übers Internet gegenseitig inspirieren:
„Die politischen und sozialen Verhältnisse in jedem dieser Staaten rechtfertigen bereits für sich den Ausbruch der Protestbewegungen, die eindeutig aus jeweils länderspezifischen Gründen entstanden sind. Ein Nachahmungseffekt ist jedoch nicht auszuschließen. Dieser hat immer existiert und wird heute noch verstärkt durch die Dominanz sozialer Netzwerke und die Logik der Kommunikation, die ihnen innewohnt.“
Proteste sind der neue Status quo
Die Demonstration von Solidarität ist zum Zeitgeist geworden, analysiert The Economist:
„Trotz aller juristischen und körperlichen Gefahren können Proteste aufregender und sogar unterhaltsamer sein als die Mühen des Alltags. Und wenn alle anderen Solidarität demonstrieren, wird das zur neuen Mode. Jede Protestwelle ahmt bis zu einem gewissen Grad andere nach. Doch die Allgegenwärtigkeit des Smartphones hat zu einem radikalen Wandel geführt, wie Proteste organisiert, bekannt gemacht und am Leben erhalten werden. ... Kaum etwas legt nahe, dass sich das bald wieder ändern wird. Daher dürfte diese dritte Protestwelle [nach der in den späten 1960er und der in den späten 1980er Jahren] nicht der Vorbote einer globalen Revolution sein, sondern schlicht der neue Status quo.“
Die Welt wird eins
Die Proteste offenbaren, dass sich eine globale Gesellschaft formiert, freut sich Kolumnist Gwynne Dyer in Cyprus Mail:
„Womit wir es hier zu tun haben, ist, trotz der Vielzahl von Sprachen, Religionen und Geschichten, eine aufstrebende globale Gesellschaft mit gemeinsamen Werten und Ambitionen, insbesondere unter jungen Menschen. Es gibt Millionen von verärgerten Andersdenkenden, doch nun vereinen sie sich zum ersten Mal überhaupt zu einem Volk. Das ist ein beruhigender Gedanke, da wir uns dem tausendjährigen Sturm des Klimawandels nähern. Diese Entwicklung hätte zu keinem besseren Zeitpunkt kommen können.“
Schwache Linke muss sich vorsehen
Dass die weltweiten Proteste nach hinten losgehen könnten, befürchtet der Europa-Abgeordnete Bernard Guetta in La Repubblica:
„Die Front der Verbrüderung - die Linke, das Zentrum und die Progressiven - hat noch nicht die intellektuelle Dynamik wiedergefunden, die sie im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verloren hat. ... Ein totales Vakuum, das umso dramatischer ist, als dass es die Wiedergeburt und Bestätigung der reaktionären Ideen ermöglicht hat, die im 19. Jahrhundert aus der Kritik an der Französischen Revolution und der Anfechtung der Aufklärung entstanden. Selbst, wenn es sich um eine Minderheit handelt, ist die extreme Rechte derzeit die politische Kraft mit der größten Dynamik. Die autoritären und fremdenfeindlichen Nationalisten könnten dies nutzen, um sich an den Kopf der aktuellen Revolte zu stellen, wie es Faschismus und dann Nazismus zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts getan haben.“
Der Westen agiert erbärmlich
Politiken ruft die europäischen Machthaber auf, sich nicht auf die Seite der autoritären Regime zu stellen:
„Die Furcht vor Bürgerkriegen kann die neuen Forderungen nach sozialen und demokratischen Modernisierungen zwar aufschieben, der Bedarf danach bleibt aber bestehen. Die Erfahrungen von Irak und Libyen rufen nicht nach einem direkten europäischen Engagement. Aber die Zusammenarbeit westlicher Regierungen mit autoritären und restriktiven Regimen sollte zumindest politisch und moralisch in Frage gestellt werden. Die Ausweitung der Zusammenarbeit mit Regimen, die ihre Bevölkerung unterdrücken und vernachlässigen, sowie deren Opfer zu ignorieren, ist schamlos und erbärmlich.“
Es gibt kaum noch Aufstiegschancen
Zu viele Menschen weltweit kommen trotz Arbeit kaum über die Runden, erklärt das Onlineportal Planet Siol.net:
„Bei den Protesten geht es nicht nur um die Massen von Armen, um die Verlierer der Globalisierung, die billigen Arbeitskräfte für die westlichen Unternehmen, die vor Klimawandel und korrupten Regimen nach Europa fliehen. Der Lehrer in Chile, der Student in Algerien und die Krankenschwester in Beirut haben alle das gleiche Problem: Trotz ihrer Ausbildung sind sie im Voraus dazu verurteilt, nicht in die Mittelschicht aufzusteigen. ... Auch in Europa kennen wir dieses Gefühl bereits.“
Diese Krise ist von Dauer
Hoffnungs- und Perspektivlosigkeit werden die Proteste weiter anheizen, befürchtet Phileleftheros:
„Millionen von Menschen haben in den vergangenen Jahren einen deutlichen Rückgang ihres Lebensstandards erlebt. Die Löhne stagnieren, wenn sie nicht sogar sinken, und die Lebenshaltungskosten steigen stark an. ... Verzweiflung ist weit verbreitet, besonders unter den Jüngeren, die sehr gut wissen, dass es dieser Generation schlechter geht als den vorherigen, und die möglicherweise nie in der Lage sein werden, ein besseres Leben zu haben. Die Krise, die im vergangenen Jahrzehnt begann, scheint von Dauer zu sein und hinterlässt Ruinen. Die Proteste werden weitergehen und es ist wahrscheinlich, dass sie noch heftiger werden.“
Die Demokratie ist in Gefahr
De Volkskrant befürchtet, dass Populisten die Unzufriedenheit der Bürger ausnutzen:
„Populisten sind im Kern nicht nur anti-elitär, sondern auch anti-pluralistisch. Sie behaupten: Nur wir repräsentieren das wahre Volk. Das führt zu einer emotionalen, polarisierenden Haltung gegenüber der etablierten Ordnung. Diese Ordnung wird schnell mit einer moralisch verwerflichen, korrupten Elite gleichgesetzt, die sich gegen das Volk verschworen hat und daher ausgeschaltet werden muss. Diese Verrohung in der Politik kann man überall im Westen beobachten. Und im Rest der Welt bedrohen populistische Herrscher anno 2019 allzu oft ehrliche Wahlen, eine freie Presse, eine unabhängige Justiz und eine das ungehinderte Handeln der politischen Opposition. Das ist mehr als nur eine Midlife-Crisis.“
Ungerechtigkeit nährt Aufruhr
Warum vor allem in reichen Städten protestiert wird, erklärt der Ökonom Jeffrey D. Sachs in der Nowoje Wremja:
„Aufgrund der sehr hohen Immobilienpreise werden die meisten Menschen aus den zentralen Geschäftsvierteln vertrieben und müssen mit eigenen oder öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren. Aus diesem Grund reagiert ein bedeutender Teil der Gesellschaft besonders empfindlich auf Tariferhöhungen im Öffentlichen Nahverkehr, wie die Proteste von Paris und Santiago zeigten. ... Wirtschaftswachstum ohne Gerechtigkeit und wirtschaftliche Nachhaltigkeit ist ein Rezept für Aufruhr, nicht für Wohlstand. Wir müssen viel mehr öffentliche Dienstleistungen erbringen, die Einkommen von Arm zu Reich aktiver umverteilen und die öffentlichen Investitionen im Umweltsektor erhöhen.“
Gesang und Tanz sind die Waffen
Das Schönste an den Protesten sind die friedlichen Mittel, kommentiert T24:
„Nehmen wir noch eine weitere Gemeinsamkeit zur Kenntnis: Es handelt sich hierbei um friedliche Massenproteste, fern von jeglicher Gewalt. ... Lieder, Volksweisen, Tänze wurden zu Waffen. ... In Chiles Hauptstadt Santiago ertönen von den Balkonen Lieder von Victor Jara. Im Libanon singen auf einem riesigen Platz versammelt Muslime und Christen und Drusen und Jesiden und Maroniten Arm in Arm, Schulter an Schulter dasselbe Lied. Sie singen das Lied aus Beethovens 9. Sinfonie auf Arabisch.“
Demonstranten fehlen konkrete Vorstellungen
Die Proteste rund um den Globus sollten konstruktiver werden, drängt Libération:
„Sie bringen eine spontane Rebellion zum Ausdruck, es mangelt ihnen jedoch dramatisch an Vermittlern in Parteien und Verbänden. Die Wut auf die Eliten ist verständlich, haben sie doch den Kult der Finanzorthodoxie, das Bejubeln von 'Leistungsträgern' und die dogmatische Sparpolitik auf die Spitze getrieben. ... In den meisten Fällen endet sie aber in der Leere oder der Demagogie. Ohne Reformen, ohne Verhandlungen, ohne Kompromisse erreicht man allerdings nichts. Man füllt Straßen, Plätze, symbolträchtige Gebäude. Dann geht man ohne greifbare Ergebnisse, verbittert und frustriert nach Hause. Eine soziale Bewegung ohne politische Perspektive ist wie Opium für das Volk. ... Am Ende des Frühlings sollte man an das Ernten denken.“
Vielleicht bist Du selbst Teil des Problems
Die Aktivistin und Künstlerin Yolanda Domínguez kritisiert in El Huffington Post diejenigen, die sich über die Demonstrationen echauffieren:
„Soziale Gerechtigkeit ist keine Mode, wie viele sagen, und auch kein Slogan auf einem T-Shirt. ... Wer die sozialen und politischen Bewegungen mehrerer Generationen mit schnellem Konsum oder mit Accessoires vergleicht, der erfasst ihr Ausmaß nicht. Sie vorübergehend oder trivial zu nennen, verweist auf null Empathievermögen. ... Wenn Du davon genervt bist, dass andauernd über dasselbe berichtet wird, über Feminismus oder soziale Gerechtigkeit, und dass ständig Demonstrationen stattfinden, solltest Du Dich fragen, warum Dich das stört. Vielleicht weil es Dich daran erinnert, dass Du, wenn Du nichts tust, Teil des Problems bist.“
Wenn Politik auf die Bevölkerung pfeift
Die Proteste zeigen, dass die Politik vielerorts die Nöte der Bürgerinnen und Bürger nicht im Blick hat, warnt De Standaard:
„Hongkong, Libanon, Barcelona und Chile… In allen vier Fällen gehen die Bürger gegen ihrer Sicht nach unakzeptable Ungerechtigkeiten in ihrem Land auf die Straße. In Hongkong wird gegen den Niedergang des Rechtsstaates gekämpft, in Chile gegen Ungleichheit, im Libanon gegen Misswirtschaft und in Barcelona gegen mangelnden Respekt für das Recht auf Selbstbestimmung, auf das die Katalanen sich berufen. Vier Beispiele von Staaten, die mehr oder weniger mutwillig die Wünsche ihrer Bürger ignorieren. Machterhalt, Institutionen und etablierte Werte haben Priorität erhalten vor den Sorgen und Nöten der Bevölkerung.“
Die tieferliegenden Probleme packt niemand an
Die weltweiten Aufstände sind Ausdruck einer Krise des Neoliberalismus, die sich weiter zuspitzen wird, glaubt Mediapart:
„Diese Krise ist erst ein Anfang. Nichts gibt Anlass zur Hoffnung, dass diese neoliberale Krise schnell beigelegt wird, ganz im Gegenteil. Der soziale Druck wird durch sich häufende Klimakatastrophen ergänzt, die die sozialen Bedingungen nur noch weiter verschlimmern … Vor allem scheinen die Staaten unfähig, andere Lösungen zu finden als die im neoliberalen Brevier. Gewiss wurden die Protestler in Ecuador und im Libanon durch den Rückzug der umstrittenen Vorhaben zufriedengestellt. Im Libanon wurde sogar eine Umverteilungsmaßnahme gebilligt, eine Steuer auf Bankgewinne. Diese Erfolge sind jedoch fragil und lassen sowohl die tieferliegenden Probleme als auch die demokratischen Forderungen unbeantwortet.“
Versagen der liberalen Demokratie
Ursachenforschung betreibt auch Expresso:
„Jede dieser Problemlagen [der Brexit, in Katalonien und die Mauer von Us-Präsident Trump] hat ihre eigenen Gründe – nicht nur historische, sondern auch soziale, wirtschaftliche und politische. ... Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass in manchen Gesellschaften und Ländern eine immer stärkere Tendenz zur Isolation besteht. Man versucht, Ghettos zu bauen, Mauern und Barrieren zu errichten. Die Guten gegen die Bösen. Wir und die anderen. Die Gefahr, die von außen kommt und die innere Harmonie untergräbt. Ein spaltender Diskurs und Generator sozialer Brüche, der die einen auf Kosten der anderen erhebt. Diese gefährliche Vorstellung – je isolierter, desto besser – ist ein Versagen der liberalen Demokratie und des Kapitalismus.“
Wie eine Epidemie
Große Demonstrationen und Straßenkämpfe scheinen derzeit in Mode zu sein, konstatiert Mladá fronta dnes:
„In Hongkong demonstrieren und kämpfen sie schon über vier Monate. In Barcelona gehen eine halbe Million Menschen auf die Straße. Im Libanon fühlt man sich an Zeiten des Bürgerkriegs erinnert. In Chile an die Zeiten Pinochets. Indonesische Studenten studieren die Protestmethoden aus Hongkong. Sie importieren das Know-how und erzeugen bei sich im Land eine explosive Lage. Sie haben das Gefühl, im Recht zu sein. Und deshalb sei alles erlaubt. Das alles kommt einem tatsächlich wie eine Epidemie vor.“