Vorschusslorbeeren für die neue Kommission?
Mit einer Mehrheit von 461 zu 157 Stimmen hat das EU-Parlament in Straßburg am Mittwoch die neue Kommission unter Ursula von der Leyen bestätigt. Europas Kommentatoren würdigen dies als Erfolg der neuen Kommissionschefin, vermuten aber auch, dass die Unterstützung des Parlaments künftig nicht immer so groß sein wird.
Von der Leyen hat das Glück der Tüchtigen
Ihr starkes Wahlergebnis hat sich die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hart erarbeitet, urteilt Der Standard:
„So viel Vertrauensvorschuss hat noch keine EU-Kommission im ersten Anlauf bekommen: nicht Vorgänger Jean-Claude Juncker 2014, nicht José Manuel Barroso 2004. Das ist bedeutend, weil eine Kommission ohne Zustimmung des Parlaments fast gar nichts mehr machen, keine ihrer Gesetzesinitiativen umsetzen kann. Dieses hat seit 2009 weit gehende Mitentscheidungsrechte. ... Die neue Präsidentin kann also zufrieden sein. Sie scheint das Glück der Tüchtigen zu haben; wenn man bedenkt, wie holprig der Start war, die Kämpfe im Nominierungsprozess der Kandidaten, wie umstritten sie selber im Juli war. Bei ihrer Antrittsrede wurde sie oft von starkem Applaus unterbrochen.“
Alle und niemand für Ursula
Auch wenn die Zustimmung groß war, heißt das noch lange nicht, dass das EU-Parlament alle Entscheidungen der Kommission durchwinken wird, wendet HuffPost Italia ein:
„Die Zahlen sind solide, fast 80 mehr Stimmen als bei der Juli-Abstimmung, bei der Ursula nur knapp zur Präsidentin gekürt wurde. Aber die heutige Parlamentsmehrheit ist in ihren Absichten nicht solide. ... Keine der Fraktionen unterzeichnet Blankoschecks für Ursula ... Alle liegen auf der Lauer, jeder auf seinen eigenen Positionen: Auch die Rechtspopulisten warten darauf, dass 'sie früher oder später unsere Stimmen brauchen wird', wie der Vorsitzende der souveränistischen Fraktion, Marco Zanni, erklärt. Vor allem bei den brisantesten Themen: Umwelt und Einwanderung. Alle und niemand für Ursula. So sieht die Sache aus.“
Ein fast unmögliches Unterfangen
Um die Herausforderungen zu meistern, müssen die EU-Staaten schon an einem Strang ziehen, erinnert El Mundo:
„In ihrer gestrigen Rede hat sich von der Leyen verpflichtet, die Vorreiterrolle im Kampf gegen den Klimawandel zurückzugewinnen und sich den Herausforderungen der Digitalisierung zu stellen. Auch will sie versuchen, eine 'humanere' Lösung für den Migrationsnotstand zu finden, in dem der Kontinent seit Jahren lebt. Dafür muss sie einen bislang unmöglich erscheinenden Konsens zwischen den Ländern im Süden und Norden erreichen, indem sie das Schreckgespenst eines Europas der zwei Geschwindigkeiten vertreibt und einen stärkeren gesellschaftlichen und territorialen Zusammenhalt forciert.“
Konfrontation nicht scheuen und Europa stärken
Vordringliche Aufgabe für von der Leyen ist, Europa außenpolitisch handlungsfähig zu machen, findet die Süddeutsche Zeitung:
„China und die USA, aber auch Russland haben es noch immer zu leicht mit der EU und spielen die 28 gegeneinander aus. Die künftige Kommissionspräsidentin wird das nur aufhalten können, wenn sie tut, was die anderen im Rat scheuen: Europa als selbstbewussten außenpolitischen Akteur zu präsentieren. Der Rat wird der Kommissionspräsidentin den Auftrag dazu nicht herabreichen - sie muss ihn sich schon nehmen. Juncker war dann zu sehr auf das Binnenklima bedacht, als dass er diese Konfrontation eingegangen wäre.“
Mammutaufgabe für die erste Offizierin
Delo fragt sich, ob von der Leyen halten kann, was sie verspricht - ein neues EU-Projekt:
„Wird sie den Ruf der vielen Wirtschaftsexperten hören, die dazu drängen, die schädlichen Wirkungen des Neoliberalismus zu begrenzen, und eine andere Form des Kapitalismus in der EU fordern? Die warnen, dass der Neoliberalismus die Gesellschaft spaltet, die Massen verarmt, die Umwelt zerstört und den Untergang der Demokratie bewirkt? … Wird sich die EU als unabhängige globale Macht positionieren können, die ihre Interessen mit eher gleichberechtigten Partnern zum beiderseitigen Wohle verfolgen wird? Eine schwere Aufgabe für jemanden, der nicht Kapitän ist (das sind die EU-Staatschefs), sondern nur erste Offizierin. Viel Glück!“
Kosmopoliten und ängstliche Bürger
Die neue Kommission steht vor einem Dilemma, was den "Schutz des europäischen Lebensstils" anbelangt, dem nun sogar ein eigenes Ressort gewidmet ist, analysiert Observador:
„Die Eliten wollen eine kosmopolitische und gastfreundliche Ideologie (im Kant'schen Sinne) aufrechterhalten. Die Bevölkerung jedoch will ein Europa mit weniger Migranten, weil sie diese als Ursache all ihrer neuen Ängste und Unsicherheiten wahrnehmen. Wenn die Europäische Kommission nicht versucht, die Sorgen der Bürger zu lindern, wird sie sich immer weiter von ihnen entfernen - und die Folgen sind unvorhersehbar. Wenn sie es versucht, stößt sie auf eine Mauer der Kritik von den Eliten. Das Gefährlichste ist, dass die Agenda der Rechtsextremen das Denken der gemäßigten Mitte an sich zu reißen versucht.“
Politik der Emotionen nicht ohne Risiko
Die neue EU-Kommissionspräsidentin gehört einem neuen Typus von Politikern an, analysiert Die Presse:
„[S]ie produzieren ein politisches Gesamtkunstwerk. Es ist kein abstraktes mehr, das nur noch Experten verstehen, sondern eines, das in jedem Schritt der Bevölkerung das Gefühl geben will, eingebunden zu sein. Deshalb wird auf Stimmungen geachtet, die verstärkt werden können oder lediglich befriedigt. ... Eine solche Taktik geht freilich nur gut, solang dadurch eine Eskalation verhindert wird. Gefährlich wird es, wenn das Spiel mit öffentlichen Stimmungen außer Kontrolle gerät.“