Was bedeutet Johnsons Wahlsieg für Europa?
Bei den britischen Unterhauswahlen haben Boris Johnsons Konservative die absolute Mehrheit erreicht. Die Tories errangen 365 der 600 Parlamentssitze. In Schottland und Nordirland erhielten Kräfte, die sich vom Königreich abspalten wollen, die meisten Stimmen. Europas Kommentatoren diskutieren, wie das den Kontinent verändern wird – nicht nur politisch.
Einiges Königreich, gespaltener Kontinent
Bei den nun anstehenden Verhandlungen über ein Handelsabkommen zwischen EU und Großbritannien droht sich das Blatt zu wenden, sorgt sich Les Echos:
„Die Spaltung könnte die Seite wechseln. Die durch die Wahl gestärkten britischen Konservativen sind zahlreich genug und ihre Feinde ausreichend dezimiert, um in Brüssel eine einzige Stimme ertönen zu lassen. Die europäische Einheit hingegen droht zu implodieren. Gegenüber Großbritannien entsprechen die Handelsinteressen Deutschlands nicht denen Frankreichs und noch weniger denen Polens oder Ungarns. Griechenland wird seine schwarzen Oliven verteidigen, Deutschland seine Autos und den Finanzplatz Frankfurt, Frankreich seine Kultur und Landwirtschaft... Wenn die Europäische Union stärker als der Union Jack sein möchte, muss sie es schaffen, diese Partikularinteressen zum Schweigen zu bringen.“
Es geht nach rechts
Für Neatkarīgā sind das Wahlergebnis und der Brexit die Vorboten eines Trends, der ganz Europa erfassen kann:
„Das britische Proletariat ist zu verwöhnt, um kranke Menschen zu pflegen oder Abfälle zu sammeln. Da werden sie die Hände aus Osteuropa noch brauchen. Aber der durchschnittliche Brite ist nicht mehr länger bereit, den Andrang von Ausländern unterschiedlicher Gesichtsfarbe zu ertragen, denn dies bedroht den gewohnten Alltag und die Identität der Inselbewohner. Die EU mag vom Brexit halten, was sie will, aber die aufsässige Insel hat diesmal ein klares Signal gegeben: Die Beschränkung der Einwanderung wird früher oder später auch im Rest Europas auf der Tagesordnung stehen. Der rechte Nationalismus hat das Potenzial, in den nächsten Jahrzehnten zum bestimmenden Trend auf dem europäischen Kontinent zu werden.“
Europa wird wieder zum Spielball der Großmächte
Johnsons Sieg schwächt die EU, meint Delowaja Stoliza:
„Russland wird natürlich vom Brexit profitieren – dieser schwächt die EU und zieht einen starken Akteur, London, vom europäischen Feld ab. So kann der Kreml in Westeuropa aktiver agieren. Eine Schwächung der EU ist auch im Interesse der USA. ... Historische Parallelen zu Ereignissen von vor 80 Jahren drängen sich auf. Angesichts einer äußeren Bedrohung rücken die USA und Großbritannien enger zusammen und distanzieren sich von Europa, das zu Kompromissen und Kapitulation neigt. ... Auf die EU werden die beiden Länder vor allem wirtschaftlichen Druck ausüben, unter anderem mit Sanktionen, die die russische Infiltration in den EU-Energiemarkt einschränken sollen. Dies wird zu einer Verschärfung der Konfrontation der Interessen Moskaus und Washingtons in Europa führen.“
Freies Spiel für BoJo
Nun kann der Chef der Konservativen in den Brexit-Verhandlungen unabhängig von parteiinternen Rücksichtnahmen agieren, analysiert De Telegraaf:
„Premier Boris Johnson muss nun nicht mehr auf die härtesten Brexiteers in seiner Fraktion hören. ... Johnson hat nun den Spielraum, den er braucht, um die Verhandlungen über ein Handelsabkommen erfolgreich zu machen. Er versprach, dass diese vor Ende 2020 abgeschlossen sein sollen, aber jeder ist sich darüber im Klaren, dass das eine unmögliche Zielsetzung ist. Mit seinem eindeutigen Sieg hat Johnson nun allerdings die innerparteiliche Autorität, um seinen politischen Gegnern die Stirn zu bieten.“
Bricht das Vereinigte Königreich auseinander?
Der Erfolg der Scottish National Party (SNP) wird die Unabhängigkeitsdebatte neu entfachen, meint The Independent:
„Die Bestätigung der Vormachtstellung von SNP-Chefin Nicola Sturgeon in Schottland wird das Vereinigte Königreich einer neuen Belastungsprobe aussetzen. ... Es mag sein, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU Ende Januar [eine Unabhängigkeit Schottlands] erschweren wird. Denn die SNP müsste erklären, dass sie eine Union verlassen und den Wiedereintritt in eine andere beantragen möchte. Doch das ist ein realpolitisches Experiment, dem Boris Johnson als Regierungschef vorstehen wird. Gleichzeitig wird der Brexit Nordirland weiter vom Rest des Vereinigten Königreichs weg- und näher an die Republik Irland heranführen. Johnson wird möglicherweise lange Zeit Premierminister sein. Aber gut möglich, dass er der letzte Regierungschef Großbritanniens ist.“
Endlich Klarheit in London
Die EU kann über das Ergebnis durchaus erleichtert sein, findet Protagon:
„Zum ersten Mal seit dem umstrittenen und historischen Votum für den Brexit 2016 hat Brüssel ein klares Bild des Premierministers. David Cameron trat sofort zurück, Theresa May war sehr geschwächt, insbesondere nach den Wahlen von 2017, und bis vor Kurzem wurde Boris Johnson in seiner eigenen Partei ernsthaft hinterfragt. Aber jetzt ist Johnson eindeutig ein mächtiger Premierminister, der weiß, was er will.“
Nun muss Europa sich entscheiden
Die Briten haben gewählt, nun kann und muss die EU sich über ihre Vision klar werden, schreibt Kolumnist Aldo Cazzullo in Corriere della Sera:
„Nun hat Europa zwei Möglichkeiten. Zurückrudern und sich mit der Währungsunion begnügen, den Euro konsolidieren und es dabei bewenden lassen. Oder den föderalistischen Weg beschleunigen, ohne die Bremse, die das Vereinigte Königreich seit jeher dargestellt hat. In den letzten Jahren war London mit einem Fuß in der EU und mit dem anderen draußen. Es hat Schengen und Maastricht nicht anerkannt. Es bekam mehr Privilegien als Nachteile. Aber dies gehört mit der letzten Nacht der Vergangenheit an. Die Würfel sind gefallen. Die Geschichte wird zeigen, ob die Wahl richtig war.“
Adieu, britische Offenheit
Mit tiefer Traurigkeit betrachtet Dagens Nyheter den Wahlsieg der Tories:
„Die Offenheit gegenüber der Außenwelt machte das moderne Großbritannien zu dem, was es heute ist. Jetzt senkt sich der Nebel über den Ärmelkanal. ... Es herrscht eine tiefe Traurigkeit. ... Margaret Thatcher war die Premierministerin, die den Traum von Großbritannien als etwas Einzigartigem neu erfand, mehr als ein größeres Belgien im Inselformat. Genau dieser Traum, diese Geschichte mündete nun in eine konservative Regierung mit einem einzigen Wahlversprechen: sich von der Gemeinschaft zu lösen. 'Nebel über dem Ärmelkanal, der Kontinent ist isoliert', heißt es in einem alten Witz. Nie war er so wahr. “