Österreich wird türkis-grün
Der Weg für Österreichs erste konservativ-grüne Regierung ist frei. Der Bundeskongress der Grünen in Österreich stimmte am Samstag mit deutlicher Mehrheit für die Koalition mit der konservativen ÖVP. Haben die Grünen für ihre erstmalige Beteiligung an der Regierung zu viele Kompromisse gemacht?
Grüne retten Neoliberalismus statt Planeten
Kein gutes Haar an der Entscheidung der österreichischen Grünen lässt Mediapart:
„Indem sie die neoliberale und identitätsorientierte Politik der Rechten im Tausch gegen eine auf dem Papier ehrgeizige Umweltpolitik akzeptiert haben, verzichten die Grünen darauf, Umweltschutz mit den Interessen der Mittelschicht zu verknüpfen. ... Sie akzeptieren es, in Sachen Migration zu schweigen, und gestehen, dass die echte Priorität nicht die Umwelt zu sein hat, sondern der wirtschaftliche Wettbewerb. ... Was Österreich Europa zeigt, ist sicher nicht der Weg aus der Ausweglosigkeit des Neoliberalismus, sondern vielmehr, wie dieser zur Wahrung seiner Hegemonie unter den Deckmantel des Faschismus und des Umweltschutzes schlüpfen kann. Anstatt den Planeten zu retten, scheinen die österreichischen Grünen sich also für die Rettung des Neoliberalismus stark zu machen.“
Einzige Chance gegen Extremismus
Die radikale Wende in Österreich steht für einen größeren Trend, meint Dennik N:
„Es werden mehr auf den ersten Blick unwahrscheinliche Koalitionen entstehen, weil sie der einzige Weg sind, Regierungen ohne Extremisten zu bilden. Heute geht es wirklich darum, das Überleben von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sicherzustellen. Deren allmähliche Erosion durch die Beteiligung von Extremisten an der Regierung muss verhindert werden.“
Ein Modell - vor allem für Deutschland
Sollte die Koalition in Wien erfolgreich sein, wird es viele Gewinner geben, prophezeit Corriere della Sera:
„Nicht nur Kurz, der beweisen kann, dass er ein Meister der Taktik ist und zugleich die Stimmung des Volkes begreift. Nicht nur Kogler, der die Grünen zu einer verantwortungsvollen und stabilisierenden Kraft in der österreichischen Szene gemacht haben wird. Auch die gesamte europäische Politik, die in Wien ein Zukunftsmodell haben wird. Das erste Land, das von diesem Experiment profitiert, wird Deutschland sein, wo die Allianz zwischen CDU und den Grünen ein fast obligatorisches Szenario für die neue Ära ist, die mit dem Abgang von Angela Merkel beginnen wird.“
Partner, die sich gegenseitig etwas gönnen
Die Koalition von ÖVP und Grünen ist auch ein Vorbild für das notorisch zerstrittene Belgien, stellt De Standaard fest und lobt, dass die Parteien ihre ideologischen Gegensätze beiseite schieben:
„In einem stabilen und vorhersehbaren politischen Kontext, der Mehrheiten von Gleichgesinnten ermöglicht, können Parteien einfacher bei ihren Positionen bleiben. Aber wenn sich die Landschaft verändert und der Wähler wechselhaft wird, ist es kontraproduktiv, an alten Gewohnheiten festzuhalten. ... Die österreichische Methode könnte auch hierzulande nützlich sein. Wenn Parteien mit entgegengesetzten Programmen bereit sind, einen Teil ihrer Vorhaben auszusetzen, können sie beim anderen Teil an die Arbeit. Sie müssen nur bereit sein, dem Partner etwas zu gönnen.“
Vorbild-Charakter muss sich noch erweisen
Das österreichische Modell ist nur sehr bedingt auf andere EU-Staaten übertragbar, findet der Deutschlandfunk:
„Denn in Österreich verfügen die Konservativen mit dem wandlungsfähigen Sebastian Kurz über einen Parteivorsitzenden, der Stimmungen und Trends in der Mehrheitsbevölkerung in Stimmen umsetzen kann und beim Schmieden neuer Koalitionen ein hohes Maß an Flexibilität aufweist. Und: Österreichs Grüne sind nach einer tiefen politischen Talfahrt erst jetzt wieder ins Parlament gewählt worden und stehen nun erstmals in ihrer Geschichte als Regierungspartei in der Verantwortung.“
Kurz ist zum Erfolg verdammt
Österreichs Kanzler wird alles tun, damit diese Koalition gelingt - schon aus ureigenem Interesse, glaubt die Luzerner Zeitung:
„Der alte und neue Kanzler Sebastian Kurz profilierte sich bislang eher als Machttaktiker. Nun muss er zeigen, dass er auch ein verantwortungsbewusster Staatsmann sein kann. Er hat mehr zu verlieren als sein grüner Partner Werner Kogler. Kurz hat schon zwei Regierungen gesprengt: Jene mit den Sozialdemokraten, womit er sich den Weg ins Kanzleramt geebnet hatte; und jene letzten Mai mit der rechten FPÖ, deren Hang zu Machtmissbrauch ihm keine andere Wahl liess. Scheitert auch das Bündnis mit den Grünen, stände auch seine Kanzlerkarriere auf dem Spiel.“
Wien schafft, was Berlin sich nicht traut
Für die Tageszeitung Die Welt ist die Koalition ein verheißungsvolles Vorhaben:
„Anders als bei uns, wo zwei taumelnde Wahlverlierer sich aus Angst vor dem eigenen Bedeutungsverlust wie zwei Ertrinkende in der großen Koalition aneinanderklammern, wagen in Österreich Konservative und Grüne ein progressives Projekt. Sie testen, ob ein Bündnis, das dem politischen Zeitgeist entspricht, tatsächlich regierungsfähig ist. Lassen sich eine nachhaltige Umwelt- und Klimaschutzpolitik verbinden mit einem industriepolitischen Ansatz, der auf Wettbewerbsfähigkeit zielt? Kann Migrationspolitik humanitär sein, ohne dass dafür die innere Sicherheit riskiert werden muss? Für Antworten auf diese Fragen blickt ohnehin schon seit geraumer Zeit niemand mehr nach Berlin. In Wien könnten sie unterdessen gefunden werden.“
Gewagte Partnerschaft
Einfach wird es für Kanzler Kurz und seine neue Regierung sicher nicht, prophezeit Der Standard:
„Sie dürfen nicht viel streiten, müssen aber ihre sehr unterschiedliche Wählerschaft bei der Stange halten. Denn wenn sich die Umfragewerte für beide Regierungspartner rasant verschlechtern, dann leidet auch die Stimmung in der Koalition. Und die Wähler werden schon bald nach der Anfangseuphorie viel zum Motzen haben, denn Kurz ist für den typischen Grünen eine Hassfigur und die Grünen sind bei vielen ÖVP-Anhängern verhasst. Das gilt vor allem für die Wähler, die Kurz jüngst von der FPÖ gewonnen hat: Sie werden für hämische blaue Sirenenklänge besonders zugänglich sein. Diesen Unmut aufzufangen wird die größte Herausforderung für Kurz und [Grünen-Chef] Kogler sein.“
Modell könnte Schule machen
Mit großem Interesse werden auch andere Länder auf das neue Bündnis schauen, erwartet Český rozhlas:
„Sebastian Kurz, der bald als Kanzler zurückkehren wird, hat ein politisches Experiment gestartet. Wie es läuft, werden aus der Ferne auch andere europäische Länder wie Deutschland beobachten. Wenn es gelingt, kann es ein Modell für die Zusammenarbeit zwischen zwei gemäßigten Parteien aus dem bislang entgegengesetzten Teil des politischen Spektrums werden. ... Das Ergebnis ihrer gemeinsamen Regierungsführung muss keine unverständliche Politik sein, die die Wähler schnell verärgert. Es könnte durchaus auch eine abwechslungsreiche Speisekarte werden, die die notwendige Erholung bringt und das Vertrauen der Bürger stärkt.“