Je suis Charlie: Die Krux mit der Meinungsfreiheit
Fünf Jahre nach dem islamistisch motivierten Anschlag auf Charlie Hebdo hat das Satiremagazin in seinem Leitartikel "neue Gesichter der Zensur" angeprangert. Über die sozialen Netzwerke würden Influencer ihre Auffassungen von politischer Korrektheit aufzwängen, kritisiert Riss, Überlebender des Anschlags und einer der Chefs des Blatts. Journalisten fragen sich, wie es heute um Meinungsfreiheit und Toleranz in Frankreich bestellt ist.
Scharfe Kritik ist keine Zensur
Charlie Hebdo muss anderen die gleiche Freiheit zugestehen, die das Blatt für sich selbst beansprucht, mahnt Journalismusexperte Jean-Jacques Jespers in La Libre Belgique:
„Zensur im eigentlichen Sinn kann nur von einer öffentlichen Autorität ausgehen. Es ist der autoritäre und willkürliche Akt, gewisse Äußerungen, Texte, Bilder von vornherein zu untersagen. Im Falle [dessen, was Riss anprangert] handelt es sich nicht um Zensur, sondern um Debatte, um Meinungsfreiheit. ... Wenn man die Freiheit bewahren will, gewisse Dinge oder Personen zu beschimpfen, muss man auch konträre Ansichten und selbst Beleidigungen und Beschimpfungen aus der Gegenrichtung hinnehmen.“
Die Gräben werden immer tiefer
Nach außen hält Frankreich der Serie von islamistisch motivierten Anschlägen in den vergangenen Jahren bemerkenswert gut stand, doch innerlich ist die Gesellschaft immer stärker gespalten, sorgt sich Sylvie Kauffmann im Leitartikel von Le Monde:
„Antisemitismus, Islamophobie, Rassismus und Intoleranz ganz allgemein haben sich durch das unendliche Echo der sozialen Netzwerke verstärkt. Die Meinungsfreiheit, die den Demonstranten [des Friedensmarschs] vom 11. Januar 2015 so lieb und teuer war, verkommt: Haltungen haben sich versteift und Empfindlichkeiten gesteigert, wodurch die Einzelnen mit ihrer Identität und ihren Überzeugungen in eine Blase eingeschlossen werden.“
Keine Schwäche gegen Islamisten zeigen
Im Kampf gegen den Islamismus muss Frankreich viel unnachgiebiger werden, drängt Le Figaro:
„Seit fünf Jahren hat sich nichts geändert. Im Gegenteil! Im Namen der Vielfalt, der Antidiskriminierung und der Menschenrechte akzeptiert Frankreich, dass seine Kultur und seine Geschichte heftige Schläge erleiden. Kleidungsweisen, kommunitaristische Forderungen, Sondererlaubnisse – das ist eifernder politischer Aktivismus, der darauf abzielt, unsere Gesetze in Frage zu stellen. Ihn hinzunehmen, zeugt das von Toleranz oder von Schwäche? … Die Islamisten setzen alle Mittel ein. Sie setzen den Kampf fort, der selbst ohne Waffen einem Krieg der Kulturen gleichkommt. War der berüchtigte 'Esprit Charlie', den einige nach den Attentaten zu vernehmen glaubten, nur eine Illusion?“
Geist des Friedensmarsches fehlt
Auch Le Soir hält die Reaktionen der Politik für unzureichend:
„Maßnahmen, um neben weiteren Arten des Kommunitarismus das nicht auszurottende islamistische Übel zu bekämpfen, das [Macron] beklagt, stehen weiter aus. Die Angst vor einer fehlenden Differenzierung darf nicht das Handeln verhindern. Denn den radikalen Islam zu kritisieren, bedeutet nicht, Schande über die Muslime zu bringen. Im Gegenteil. Es ist nicht untersagt, sowohl Rassismus als auch die Manipulation von Fanatikern anzuprangern - ohne dass man dabei einem den Muslimbrüdern nahestehenden Kollektiv das Monopol der Anprangerung von 'Islamophobie' überlässt. Das war der Grundgedanke des Friedensmarschs vom 11. Januar 2015, der die Staatschefs der ganzen Welt vereinte. Fünf Jahre später fehlt dieser Geist erheblich.“
Terror diktiert nicht die Agenda
Beeindruckt davon, wie Frankreich mit der Serie an Terroranschlägen seit Charlie Hebdo umgeht, zeigt sich hingegen die Paris-Korrespondentin der Süddeutschen Zeitung, Nadja Pantel:
„Das Land steht nicht geeint gegen den Terror, es steht dazu, weiterhin eine streitende, freie Nation zu sein. Wenn man sich etwas von der Resilienz der Franzosen abschauen möchte, dann vielleicht dieses: Sie lassen sich vom Terror nicht die Agenda diktieren. Ja, Teile Frankreichs entzweien sich, so wie die Dschihadisten es sich wünschen, über die Frage, welchen Platz der Islam in der Gesellschaft hat. Aber die großen Debatten dieser Tage kreisen nicht um religiöse oder nationale Identität. Von den Gelbwesten bis zum Streik gegen die Rentenreform: Frankreich streitet darüber, wie Wohlstand gerecht verteilt wird.“