Irland: Revolution an der Wahlurne
Bei den Parlamentswahlen in Irland holte erstmals die links-nationalistische Partei Sinn Féin mit 24,5 Prozent die meisten Erststimmen. Aufgrund des komplizierten Wahlsystems ist aber noch nicht klar, ob Sinn Féin auch im Parlament stärkste Kraft wird. Europäische Medien fragen sich, was der Erfolg der Partei sowie eine mögliche Regierungsbeteiligung für Irland und Europa bedeuten.
Linke Wahlgewinner lassen sich nicht ignorieren
Weil linke Parteien stark zugelegt haben, sollten sie an der nächsten Regierung beteiligt werden, fordert The Irish Times:
„Aufgrund des Wahlergebnisses ist es nur schwer vorstellbar, wie eine stabile Regierung aussehen soll, die die Stimmung des Landes widerspiegelt, ohne dass ihr Sinn Féin und andere [linke] Parteien angehören. Wenn [Fianna-Fáil-Chef Micheál] Martin die von ihm nach der Wahl geöffnete Tür für Verhandlungen mit [Sinn-Féin-Chefin] Mary Lou MacDonald offen lässt, und sich Fine Gael an die Ankündigung des bisherigen Vizepremiers Simon Coveney hält, sich in der Opposition neu zu formieren, dann könnte - nach dem Ende des politischen Schattenboxens - eine Koalition von Fianna Fáil und Sinn Féin mit eventueller Beteiligung der Grünen die realistischste Option sein.“
In der Opposition kann Sinn Féin noch erstarken
Aus strategischer Sicht sollte Sinn Féin eine Regierungsbeteiligung vermeiden, rät hingegen The Independent:
„Die beiden etablierten Parteien waren fest entschlossen, Sinn Féin von der Regierung fernzuhalten. Dazu müssten sie sich verbünden, und vielleicht werden die Grünen, die bei der Wahl gut abschnitten, ihre starke Verhandlungsposition nutzen, um mehr Maßnahmen gegen den Klimawandel zu fordern. Nicht an der Macht zu sein, könnte Sinn Féin durchaus zupasskommen. Ohne Regierungsverantwortung könnte sie weiterhin von inneririschen Missständen profitieren. Und wenn die Schockwellen eines harten Brexits durch die Irische See schwappen, wird der Ärger über Großbritannien eine nationalistische Agenda in Nord- und Südirland befeuern. Gut möglich, dass wir Sinn Féin auf dem Höhepunkt erst noch erleben werden.“
Wähler setzen Hoffnung in Außenseiter
Ein Grund für den Erfolg von Sinn-Féin liegt in der Überzeugung der Wähler, dass die etablierten Parteien den notwendigen Wandel nicht stemmen können oder wollen, glaubt die Tageszeitung Die Welt:
„Das ist ein Phänomen, das in anderen europäischen Ländern schon länger zum Kollaps der etablierten Parteienlandschaft geführt hat. Jahrzehntelang hatten Fine Gael und Fianna Fáil im Wechsel die Macht in Dublin innegehabt. Die Bürger haben dieses Schema so satt, dass sie einem Außenseiter die Kontrolle geben wollen. ... Die Gefahr ist allerdings groß, dass die Sinn-Féin-Wähler ein zähes Warten und möglicherweise eine bittere Enttäuschung erwartet. Beide Volksparteien schließen ein Bündnis mit den Linken aus.“
Etablierte Parteien können auch erfolgreich sein
Dass traditionelle Parteien durchaus noch punkten können, erklärt Göteborgs Posten anhand von Boris Johnson und seiner konservativen Tory-Partei:
„Im Geiste ist Johnson sozialliberal, gleichzeitig ist er wirtschaftsliberal und pragmatisch. ... In Sachen Migration befürwortet er ein Punktesystem nach kanadischem oder australischem Muster. Die Klimapolitik soll laut Johnson ambitioniert sein, ohne ins Drastische abzugleiten. Seine Politik lässt sich weder als Links-noch als Rechts-Ruck beschreiben, es handelt sich um eine Mitte-Politik neuer Art. ... Johnson und die Tories sind nicht populistisch, sondern pragmatisch, und das auf äußerst clevere Weise. Sie sind möglicherweise die erste 'alte' Partei, die sich erfolgreich der veränderten politischen Landschaft nach 2000 angepasst hat.“
Eine Frau von Format
Sinn Féin verdankt ihren Erfolg vor allem ihrer Frontfigur, stellt La Repubblica fest:
„Mary Lou McDonald. Fünfzig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder, ist sie die erste Vorsitzende der Partei - einst das politische Gesicht der [Irisch Republikanischen Armee] IRA - die nicht zu den republikanischen Terroristen gehörte und die einzige wirkliche Protagonistin der irischen Politik. Viele bei Sinn Féin glaubten, dass sie ihrem umstrittenen Vorgänger Gerry Adams, der 2018 seinen Platz für seine Stellvertreterin räumte, nicht gewachsen wäre. ... Das Gegenteil ist der Fall, wie sie bei ihrem Amtsantritt vor zwei Jahren sagte: 'Ich bin nicht den ganzen Weg gegangen, um Gerrys Schuhe zu benutzen. Ich habe meine eigenen mitgebracht!' Mary Lou hatte Recht. Jetzt verkündet sie der ganzen Welt: 'Am Samstag wurde ein neues Irland geboren'.“
Soziale Kluft beflügelt Sinn Féin
Es ist die wachsende Ungleichheit, die die Iren mit dem traditionellen Zweiparteiensystem brechen lässt, analysiert La Vanguardia:
„Die Ursache liegt in der Unzufriedenheit breiter irischer Gesellschaftsschichten - insbesondere der jungen Leute - mit der Entwicklung des Landes. Grob gesagt lässt sich das als Kluft zwischen den von der Globalisierung profitierenden reichen Eliten und denjenigen beschreiben, die unter den steigenden Mietpreisen für Wohnraum leiden. ... An sich nichts Neues in Europa. Aber Irland ist wohl das EU-Land, in dem die Widersprüche am augenscheinlichsten und extremsten hervorstechen. Die Wirtschaft läuft gut, aber die Bürger fühlen sich vom vermeintlichen Wohlstandswachstum ausgeschlossen.“
IRA-Verbrechen kümmern Jugend leider nicht
The Irish Independent wirft den jungen Sinn-Féin-Wählern Doppelmoral vor:
„Die Jungen sind stolz darauf, die Schreckenstaten der katholischen Kirche zu dramatisieren. Doch wenn sie aufgefordert werden, Mitleid mit den Opfern von Sinn Féin und deren Privatarmee zu zeigen, die, wie Zeugenaussagen belegen, ebenfalls Missbrauch begangen haben, dann reagieren sie bestenfalls desinteressiert und im schlimmsten Fall feindselig. ... Es ist natürlich die Entscheidung der Jungen. ... Doch es ist eine Entscheidung, und sie dürfen sich nicht erwarten, dass über ihre Doppelmoral hinweg gesehen wird, nur weil Sinn Féin verspricht, sich mit 'den Reichen' anzulegen.“
Junge Iren wollen Wiedervereinigung
Die Debatte um ein vereintes Irland könnte sich wieder neu entfachen, glaubt die Süddeutsche Zeitung:
„In Irland gibt es einen Spruch, den dort fast jeder kennt: 'Tiocfaidh ár lá' - 'Unser Tag wird kommen'. Dies war der inoffizielle Slogan der IRA, die einst gewaltsam für ein vereinigtes Irland kämpfte. ... Noch nie schien der Tag, den Sinn Féin ersehnt, so nahe zu sein wie jetzt. ... Je nachdem, welche Rolle Sinn Féin künftig einnimmt, könnte die Frage eines vereinigten Irlands ... im Zuge der Brexit-Verhandlungen wieder an Dynamik gewinnen. Mit dem Austrittsabkommen ist eine harte Grenze zwischen Irland und Nordirland zwar verhindert worden. Aber insbesondere junge Iren sehen in einer Vereinigung die Zukunft der irischen Insel. Sie waren es auch, die Sinn Féin maßgeblich zum Wahlerfolg verholfen haben.“