Coronavirus: Europa zwischen Panik und Tatendrang
Angesichts der raschen Ausbreitung des Coronavirus in Italien berät die Regierung in Rom am heutigen Dienstag mit seinen Nachbarländern Slowenien, Frankreich, Schweiz und Österreich, sowie Deutschland über weitere Maßnahmen. Die Zahl der Infektionen in Italien liegt mittlerweile bei über 220 Fällen. In den Kommentarspalten finden sich an Panik grenzende Texte ebenso wie kühl-rationale Überlegungen.
Jetzt bloß kein staatlicher Aktionismus
De Morgen mahnt zu Besonnenheit und Rationalität:
„Bei den Notfallplänen muss der Staat den unkontrollierbaren Faktor Mensch einberechnen. Dem Einzelnen mag es klug erscheinen, zum Beispiel schon jetzt Gesichtsmasken zu kaufen. Aber wenn jeder so denkt, entsteht ein Run. Dadurch kann es zu einem Mangel kommen, der dann die trifft, die die Produkte zweifellos am dringendsten brauchen: Ärzte und Pflegepersonal. Das wäre wirklich eine schlechte Nachricht. Die größte Aufgabe des Staates ist es jetzt, Notfallpläne aus dem Schrank zu holen, die Krankenhäuser vorzubereiten und mit ausreichend Hilfsmitteln auszustatten. Das klingt langweiliger als die Pläne, Züge zu stoppen und Grenzen zu schließen. Aber es ist sehr viel effizienter.“
Kontrolle ja, Panik nein!
Erkrankte und Kontaktpersonen zu isolieren ist das Mittel der Wahl, glaubt Público:
„Der beste Weg für die Behörden, mit einer Bedrohung umzugehen, deren Ausmaß noch überhaupt nicht fassbar ist, besteht darin, dies entschlossen zu tun. Fälle zu isolieren und Personen zu identifizieren, die möglicherweise mit infizierten Personen Kontakt hatten, damit sie ebenfalls isoliert werden können, ist zwar keine Zauberlösung, bietet jedoch die beste Chance, die Ausbreitung des Virus frühzeitig einzudämmen. Dies kann in einer globalisierten Welt wirkungsvoller sein als - so medienwirksam sie auch sind - Reisebeschränkungen. So kann der Rest der Bürger sein normales Leben fortführen und es werden Schäden vermieden, die allein der Panik geschuldet sind.“
Krankenhäuser sind alles andere als gewappnet
Die europäischen Gesundheitssysteme sind einer Epidemie nicht gewachsen, sorgt sich Naftemporiki:
„Die Gesundheitssysteme in den Industrieländern wurden in den letzten Jahren zurückgebaut, und in den Entwicklungsländern haben die Kriege der letzten Jahre sogar diese unzureichende Infrastruktur zerstört. … Wie der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EGÖD) auf seiner Website berichtet, wurden in Ländern wie Zypern, Griechenland, Irland, Litauen, Portugal und Rumänien die Gehälter von Angestellten im Gesundheitssektor eingefroren oder sogar gesenkt. In Griechenland sind die Engpässe in öffentlichen Krankenhäusern bekannt - und einige mussten aufgrund der strengen Sparmaßnahmen während der Krise geschlossen werden“
Weiterer Gefahrenherd in Nahost
Im Iran sind nach offiziellen Angaben bisher 12 Menschen am Coronavirus gestorben; die Dunkelziffer dürfte jedoch weit höher liegen. Das ist extrem besorgniserregend, findet Milliyet:
„Nicht alle Länder haben die gleichen Möglichkeiten, um Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, die Krise zu managen und die Epidemie zu bewältigen. ... Während ein Land wie China harte Maßnahmen durchsetzen kann, zeigen die Nachrichten aus dem Iran, dass dort die Situation aus dem Ruder läuft. ... Die Ausbreitung des Virus wird sich in Gegenden beschleunigen, in denen die Grenzen unzureichend geschützt sind, die illegale Einwanderung hoch ist und Rahmenbedingungen wie das Gesundheitssystem oder die Ernährungssituation schlecht sind. ... Allein das sind genug Gründe für ein großes Katastrophenszenario.“
Fake News sind ein resistenter Keim
Der Mathematiker und Biostatistiker Adam Kucharski erklärt in El País, warum auch viele falsche Gerüchte über das Coronavirus grassieren:
„Studien über die Verbreitung von Twitter-Nachrichten in den Jahren 2006 bis 2017 zeigen, dass sich Falschmeldungen schneller verbreiten als andere Tweets. Der Grund? Die Leute schätzen offensichtlich den Neuigkeitswert, und der ist bei falschen Nachrichten naturgemäß höher als bei wahren. Darüber hinaus hängt die Verbreitung einer Nachricht außerdem davon ab, welche Emotionen sie auslöst. ... Es gibt keinen Beweis dafür, dass sich das Virus seit seinem Auftreten im Dezember weiterentwickelt hat und ansteckender geworden ist. Was sich hingegen wahrscheinlich tatsächlich weiterentwickelt, sind die Gerüchte darüber. Und die verbreiten sich immer schneller.“
Alle Prävention hat nichts genutzt
Dem St. Galler Tagblatt ist wichtig, zu betonen:
„Auch wenn es Vorurteilen zuwiderlaufen mag: Die Ausbreitung des Corona-Virus in Italien ist nicht auf Schlamperei der Behörden zurückzuführen. Im Gegenteil: Das Land hat sich bei der Prävention geradezu pionierhaft verhalten und als erstes Land der EU alle Flüge aus China gestrichen. Ebenfalls schon im Januar hatte die Regierung Conte ein Kreuzfahrtschiff mit 6000 Personen an Bord vor Civitavecchia blockiert, weil auf dem Schiff zwei Passagiere erkrankt waren. Erst als sich herausstellte, dass es sich um normale Grippefälle handelte, durften die Passagiere mit einer Verspätung von 24 Stunden an Land gehen. ... Italien hat wohl einfach Pech gehabt.“
Italien geht mit gutem Beispiel voran
In Notlagen wächst Italien verlässlich über sich hinaus, lobt die Süddeutsche Zeitung:
„Wenn große Plagen, wie zum Beispiel Erdbeben, ihr Land verheeren, rücken sehr viele Italiener zusammen, handeln rasch, effektiv, solidarisch. ... Niemand kann vorhersagen, ob sich so eine massive Ausbreitung von Sars-CoV-2 in Europa verhindern lässt. Vorbeugen lässt sich dagegen einer Massenhysterie. Hierzu bedarf es nicht nur energisch handelnder Regierungen, sondern, anders als in China, auch ehrlicher, seriöser, weder beschwichtigender noch dramatisierender Information. Offenbar hat sich Italien entschlossen, auch dabei mit gutem Beispiel voranzugehen.“
Nicht schlimmer als die gewöhnliche Grippe
Panikmache wegen des Coronavirus bringt gar nichts, meint Lidové noviny:
„50.000 Menschen in Quarantäne hat Europa schon ewig nicht erlebt. Steigt die Zahl der Infizierten dramatisch, werden die Forderungen noch lauter werden, die Grenzen zu schließen und das Reisen zu beschränken. Was sind wir bereit, für unsere Sicherheit in Kauf zu nehmen? Für ein paar Tage wären solche Einschränkungen kein Problem, aber angesichts des Ausmaßes der Epidemie aus China ginge es um Monate. ... Die Sterberate des Coronavirus ist ähnlich hoch wie die der normalen Grippe [sic], die unseren Kontinent in jedem Winter ereilt, ohne das jemand in Panik verfallen würde. Gewöhnen wir uns an das Risiko ähnlicher Krankheiten oder beginnen wir, uns selbst zu isolieren?“
Die WHO ist ein zahnloser Tiger
Die Institution, die die Weltgesundheit sichern soll, entpuppt sich als machtlos, beklagt der frühere Verfassungsrichter Sabino Cassese in Corriere della Sera:
„Die Weltgesundheitsorganisation verfügt über ein Jahresbudget von nur 2,2 Milliarden Dollar (die Hälfte der Kosten eines großen Krankenhauses in New York), so dass sie für den Kampf gegen das Coronavirus eine Spendensammlung starten musste. ... Vor allem aber sind die Befugnisse der Organisation unzureichend: Sie kann die Sammlung von Studien fördern, technische Anweisungen geben, beraten, überwachen, die Presse informieren, die Bevölkerung aufklären, die Qualität der Medikamente bescheinigen, Alarm auslösen und in Alarmbereitschaft versetzen. ... Doch sind ihr Grenzen gesetzt, wenn es darum geht, als echte Gesundheitspolizei zu handeln.“
Den Mundschutz via Hashtag promoten
Wirkungsvoller als Abriegelungsmaßnahmen könnte eine verstärkte Einbindung der sozialen Netzwerke sein, erklärt Informatiker Frédéric Prost in Contrepoints:
„Nicht ins Krankenhaus gehen, einen Mundschutz tragen, sich freiwillig isolieren usw. sind bekannte und effiziente Maßnahmen. ... Doch die Verwaltung bekommt nicht unbedingt mit, ob sie befolgt werden. Hier könnten sich die sozialen Netzwerke als interessant erweisen. In einem Bottom-Up-Prozess ließen sich Informationen mit einer Präzision teilen, die für Behörden unerreichbar ist. Die sozialen Medien könnten solche Verhaltensweisen sichtbar und erstrebenswert machen, sowie dafür sorgen, dass die Behörden sie entsprechend berücksichtigen. Dafür gibt es jedoch keine Garantie: Falschnachrichten, Gerüchte usw. gibt es in den sozialen Netzwerken zuhauf. Zudem wäre Voraussetzung, dass die Regierenden ihren Bürgern vertrauen.“