Brexit-Verhandlungen: Wortbruch durch London?
Die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen zwischen Großbritannien und der EU haben noch nicht begonnen, da droht die Regierung von Boris Johnson schon mit einem vorzeitigen Abbruch. Demnach will sich London künftig auf keinen Fall an EU-Regeln halten müssen und behält sich einen Ausstieg aus den Gesprächen vor, wenn bis Juni kein Freihandelsabkommen greifbar ist. In Europas Kommentarspalten ist die Empörung groß.
Angst vor dem Fotofinish
London-Korrespondent Luigi Ippolito erklärt in Corriere della Sera, warum Johnsons Regierung nun wieder von einem "no deal" spricht:
„Auf diese Weise wollen die Briten vermeiden, bei den Fotofinish-Verhandlungen kurz vor dem 31. Dezember, wenn die derzeitige Übergangsperiode ausläuft, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. ... Hier sieht die EU rot: Die 27 wollen verhindern, dass Großbritannien durch eine aggressive Deregulierung seiner Wirtschaft zu einem gefährlichen Konkurrenten wird, und fordern die Einhaltung eines 'level playing field', also gleicher Wettbewerbsbedingungen. Deshalb werfen sie Johnson vor, nach der Unterzeichnung der gemeinsamen politischen Erklärung Ende letzten Jahres sein Wort nun gebrochen zu haben.“
Großbritannien wird zum Schurkenstaat
Die britische Regierung will sich nicht an ihre eigenen Zusagen halten, konstatiert Irish Examiner:
„Dass Boris Johnson das Austrittsabkommen zurückweist, das er erst im vergangenen Oktober mit der EU geschlossen hat, ist schockierend, aber kaum überraschend. Es ist nicht die erste und auch nicht die zweite Kehrtwende in seiner Karriere. Es wirkt, als sähe Johnson alle ausgehandelten Vereinbarungen jeweils nur als Sprungbretter, die geflissentlich vergessen werden können, wenn sie ihren jeweiligen Zweck erfüllt haben. ... Es ist erschreckend, doch mittlerweile kann plausibel behauptet werden, dass Großbritannien unter dem zunehmenden Einfluss der rechtsextremen Brexit-Puristen die Merkmale eines Schurkenstaates angenommen hat. ... Wie traurig.“
Briten müssen sich entschieden
Für die Tageszeitung Die Welt sind die Drohungen von der Insel ein Zeichen,
„dass Premier Boris Johnson im Zweifel ein eher loses Verhältnis zur EU anstrebt. Nun ist es also abermals die Aufgabe der Europäer, die Briten auf den harten Boden der Tatsachen zurückzuholen. Und ihnen zu verklickern, dass das eine – der reibungslose Zugang zum EU-Markt – ohne das andere – die Adaption von EU-Regularien – nicht zu haben ist. Letztlich können die Briten der Entscheidung nicht ausweichen, was ihnen wichtiger ist: die Blütenreinheit des Prinzips Souveränität – oder der wirtschaftliche Vorteil.“
Keine Werbung in eigener Sache
Wie dieses Großbritannien künftig attraktive Handelspartner finden will, fragt sich Die Presse:
„Handelsverträge sind letztlich ein Aushängeschild für künftige internationale Partner. Zeigt die britische Regierung kein Entgegenkommen, wird es ihr schwerfallen, so rasch wie möglich die vielen internationalen Handelsabkommen der EU durch eigene zu ersetzen. Denn wer möchte schon mit einem Land kooperieren, das kein Verständnis für gewachsene Normen eines Partners hat, sondern immer und überall nur den eigenen Wettbewerbsvorteil verwirklicht sehen will?“
Arroganz kann nicht zum Erfolg führen
Trotz komfortabler Parlamentsmehrheit: Boris Johnson verzockt sich, wenn er die im Oktober unterzeichnete Erklärung missachtet, die zu enger Partnerschaft mit Brüssel verpflichtet, glaubt Le Soir:
„In London hofft man, dass der radikale Bruch mit der EU zwar zunächst schmerzhaft sein wird, der britischen Wirtschaft aber einen heilsamen Elektroschock verpasst. Unter diesen Bedingungen und ohne eine Abschwächung dieses ideologischen Kurses mit populistischen Anklängen scheint ein baldiger Konflikt unvermeidlich. Ein 'No Deal' wird seinen Preis haben. Für beide Seiten. Unseren britischen 'Freunden, Nachbarn und Verbündeten', wie [EU-Unterhändler Michel] Barnier sagt, wird in Erinnerung gerufen werden, dass die prahlerische Isolierung der Insel und ihrer 65 Millionen Einwohner den Zugang zum EU-Binnenmarkt und dessen 500 Millionen Verbrauchern deutlich erschweren wird.“
Brüssel hat den Brexit verschlafen
Die EU sollte Großbritannien endlich wie einen Drittstaat behandeln, fordert The Daily Telegraph:
„Die EU scheint Großbritannien immer noch wie ein austrittswilliges Mitglied zu behandeln, das versucht, die Bedingungen für seinen Rückzug auszuhandeln. Brüssel hat offenbar noch nicht richtig realisiert, dass der Brexit bereits stattgefunden hat. Wir Briten sind jetzt ein Drittstaat, der ein Abkommen mit der EU aushandeln will, aber nicht beantragt, im rechtlichen Orbit der EU zu bleiben. Wenn Japan, die USA oder ein anderes Land mit der EU verhandeln, werden sie als unabhängige Nationalstaaten behandelt. Es war nie Thema, dass diese Länder EU-Regeln und -Vorschriften einhalten müssten. Warum also fordert die EU genau das von Großbritannien?“
Irland braucht schnell eine stabile Regierung
Irlands Parteien sollten bei der Regierungsbildung nach der jüngsten Parlamentswahl endlich Nägel mit Köpfen machen, um für den Brexit-Poker gerüstet zu sein, fordert The Irish Independent:
„Wir dürfen uns nichts vormachen: Die irische Seegrenze wird in den Verhandlungen zweifelsohne wieder als Druckmittel eingesetzt werden. Die Aussichten für die Handelsgespräche werden düsterer. ... Angesichts der wachsenden Unsicherheit dürfen innenpolitische Machtspiele jetzt keine Priorität haben. Irland hatte während des gesamten Brexit-Prozesses die volle Solidarität der EU. Nun sollte es ein Signal des Zusammenhalts unserer eigenen politischen Führer geben, indem sie mehr Begeisterung und Eifer bei der Bildung einer Regierung zeigen, anstatt davor davonzulaufen. Das ist kein letztes Mittel, sondern allererste Pflicht.“