Nach Waffenruhe: Wie weiter in Idlib?
Nachdem Russlands Präsident Putin und sein türkischer Amtskollege Erdoğan eine Waffenruhe für die seit Monaten heftig umkämpfte syrische Provinz Idlib vereinbart hatten, ist der Konflikt aus der europäischen Öffentlichkeit weitgehend verschwunden - nicht zuletzt aufgrund der Corona-Krise.
Die vergessene Katastrophe
Wegen der Corona-Krise hat die Welt das Elend von Millionen Menschen im syrischen Idlib aus den Augen verloren, klagt The Irish Times:
„Eine Welt im Bann der Coronavirus-Pandemie, die als existenzielle Bedrohung wahrgenommen wird, darf die andere unmittelbare Bedrohung ihrer zivilisierten Werte nicht vergessen, nämlich jene in Idlib. ... Die dortige Zivilbevölkerung kann sich völlig zu Recht vom Rest der Welt enttäuscht fühlen, denn sie sieht sich einer letzten tödlichen Schlacht gegenüber - ohne dass es Anzeichen dafür gäbe, dass die internationale Diplomatie eine derartige Katastrophe abwenden könnte. ... Noch bleiben Spielraum und Zeit für die EU, ihre Bemühungen zu verdoppeln, um ein Blutbad zu verhindern, das so viele verzweifelte Menschen dazu bringen würde, hier Zuflucht zu suchen.“
Ein Sieg für Erdoğan
Der freie Russland-Korrespondent Stefan Scholl sieht in der Kleinen Zeitung die Waffenruhe als Erfolg für die Türkei:
„Damit steht einmal nicht Putin, sondern Erdoğan als Gewinner da. ... [M]it dem Waffenstillstand ist der militärische Druck der Syrer und Russen auf die letzte Rebellenhochburg ... erst einmal weg. Und damit auch auf die über 3,5 Millionen Flüchtlinge dort. ... Putin redete gestern im Kreml wieder von der Unverletzlichkeit der territorialen Souveränität Syriens, in Idlib ist die militärische Wiederherstellung derselben erst einmal gescheitert ... Aber zumindest muss man sich im Kreml weniger sorgen, dass ... die enge wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Ankara tiefe Risse bekommt. Die Türkei ist einer der wichtigsten Nachbarn Russlands. Wegen Idlib will man sich das Verhältnis nicht verderben.“
Ein Sieg für Putin
Für Tomas Avenarius, Nahost-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, triumphiert hingegen Russland über die Türkei. Der Tages-Anzeiger übernimmt seinen Kommentar:
„Der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan kam am Donnerstag als Bittsteller in den Kreml. Der Krieg in Idlib ... ist für Erdoğan und die mit ihm verbündeten syrischen Aufständischen nicht mehr zu gewinnen. ... Erdoğans Truppen können den Sieg von Syriens Diktator Bashar al-Assad bestenfalls verzögern, um den Preis gefallener türkischer Soldaten. ... Solange Putin seine Hand über Assad hält, bleibt Erdoğan der Verlierer. Auch sonst ist Erdoğan von Putin abhängig. ... Sollten sich die beiden Staaten nun noch einen Wirtschaftskrieg liefern, dürfte Ankara wieder den Kürzeren ziehen. ... All dies sind Gründe für Putin, Erdoğan zappeln zu lassen. Der Kreml kann Ankara grosszügig eine Waffenruhe in Idlib anbieten, aber er kann sein raffiniertes Spiel jederzeit wieder aufnehmen.“
EU muss die Zuschauertribüne verlassen
Die EU muss im Syrienkonflikt endlich energischer auftreten, fordert Ta Nea:
„Zweifellos ist Moskau heute ein wichtiger Akteur in der Region - und sein Einfluss umgekehrt proportional zu dem anderer Akteure wie den USA und der EU. ... Dies bedeutet aber nicht, dass Europa sich damit abfinden sollte. Es kann sein Schicksal nicht davon abhängig machen, dass Moskau auf diesem oder jenem Treffen Stärke beweist. Die EU sollte ein Mitspracherecht darüber haben, was in Idlib vor sich geht. ... Aus dieser Perspektive hat Deutschland die historische Verpflichtung, Europa dazu zu bringen, die Rolle des passiven Zuschauers aufzugeben und es zu einem aktiven Akteur zu machen. Doch das wird gewiss nicht dadurch erreicht, dass man der türkischen Küstenwache ein paar Dutzend Millionen Euro anbietet.“
Explosive Vermengung von Interessen
Angesichts der Gemengelage unterschiedlicher Akteure ist kein Ende des Krieges in Sicht, beklagt Keskisuomalainen:
„Für Russland geht es in Syrien darum, Zugang zu einer weltpolitisch wichtigen Region zu bekommen, seinen Großmachtstatus aufrecht zu erhalten sowie die militärische und politische Macht durch Kriegserfahrung und auch Waffenexporte zu stärken. ... Erdoğan muss in das Spiel bald seine gesamte Autorität einbringen, weil die EU trotz Drohungen nicht bereit zu sein scheint, seinen teuren Angriffskrieg zu bezahlen. In der Syrien-Krise hat die Türkei Interessen, aber nicht genug Kapazitäten. Die USA und die EU verfügen über Ressourcen, aber die USA haben nicht den Willen und die EU nicht die politischen Fähigkeiten zum Eingreifen. Russland wiederum hat die benötigten Kapazitäten und den Willen zum Handeln. So wird der Krieg weiter gehen und die Zivilbevölkerung zerrieben werden.“